Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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27JAN2023
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Heute ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Damit ist es der Tag, der mich an meine Verantwortung erinnert. Es ist die Verantwortung, dass sich die Ereignisse des Nationalsozialismus nicht wiederholen. Nie wieder! Umso mehr schockiert mich die Anzahl der judenfeindlichen Straftaten. In der letzten Statistik des Bundesinnenministeriums wurden über 3.000 gezählt. [1]  Das sind im Schnitt 8 an einem Tag.

Hinzu kommen Vorfälle, die nicht als Straftat gewertet werden. Oft sind es kleine Situationen im Alltag, die aber trotzdem verletzen und verunsichern können.

So saß die Tage eine Frau neben mir im Bus, die lautstark telefonierte. Plötzlich ruft sie empört in ihr Handy: „Also das Thema haben wir doch schon bis zur Vergasung durchgekaut.“ Ich schaue irritiert zu ihr rüber. Ich habe einen Kloß im Hals. Ich lege mir Erklärungen zurecht: Sie hat es nicht so gemeint – hat den Begriff unwissend verwendet. Und überhaupt: Was soll ich denn sagen? Letztlich tue ich so, als hätte ich es nicht gehört.

Im Internet stoße ich auf eine Seite, die genau das behandelt. Sie heißt „stopantisemitismus.de“ [2]. Dort werden Zitate vorgestellt, die offen oder versteckt antisemitisch sind. Es wird erklärt, was daran problematisch ist und wie man reagieren kann. Tatsächlich wird auch der Begriff „Vergasung“ thematisiert.

Oft wird er benutzt, ohne dass man sich seiner Bedeutung bewusst ist. Aber selbst wenn das Wort ursprünglich in einem anderen Sinn verwendet wurde: inzwischen ist es eindeutig mit dem nationalsozialistischen Massenmord verknüpft. Wenn ich es in banalen Alltagssituationen benutze, relativiere ich das Leid der Opfer des Holocaust. Daher geht dieser Ausdruck gar nicht!

In diesem konkreten Fall könnte ich wie folgt reagieren: „Vielleicht ist es Ihnen nicht so bewusst: Aber der Ausdruck ist verbunden mit dem Leid von Millionen Menschen im Zweiten Weltkrieg, die vergast worden sind. Ich verwende ihn deswegen nicht.“

Mit den empfohlenen Reaktionen fühle ich mich etwas besser gewappnet. Denn ich will nicht stumm bleiben. Ich kann antisemitische Aussagen und Handlungen, ob nun direkt oder indirekt, nicht ignorieren. Ich will reagieren! Das entspricht meinem jüdisch-christlichen Menschenbild und ist Teil meiner Verantwortung.

 

[1] Vgl. Bericht im Tagesspiegel vom 17.02.2022: https://www.tagesspiegel.de/politik/judenhasser-veruben-2021-mehr-als-3000-straftaten--vier-menschen-sterben-4309552.html (Zugriff: 2023-01-16)

[2]https://www.stopantisemitismus.de/ Vgl. auch: https://konterbunt.de/ (Zugriff jeweils: 2023-01-16).

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36959
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