Christvesper

Christvesper

Ein erstauntes „O!“ ist mir über die Lippen gekommen, als ich dieses Jahr eine kleine Entdeckung gemacht habe: in meinem evangelischen Gesangbuch beginnen 35 Lieder mit genau diesem Wort, das nur aus einem einzigen Buchstaben besteht. Mit dem kleinen Wörtchen „O“. Und wenn ich die einzelnen Strophen der Weihnachtslieder durchgehe, dann kommen noch eine ganze Menge mehr dazu. O! Das ist ein Ausruf, der weihnachtlicher nicht sein könnte: Bewunderung steckt darin und auch ganz viel Staunen.

Ja, Weihnachten lässt mich staunen, mit offenem Mund und weit geöffneten Augen. Wer staunt, öffnet aber nicht nur seinen Mund, sondern macht auch den Kopf und das Herz weit. Und eine offene Körperhaltung und ein offener Geist nehmen viel mehr vom Leben wahr und von seinen Geheimissen. Und hier kommt auch schon ein erstes Lied zum Staunen:

O Tannenbaum, o Tannenbaum,
wie grün sind deine Blätter!
Du grünst nicht nur zur Sommerszeit,
nein, auch im Winter, wenn es schneit.
O Tannenbaum, o Tannenbaum,
wie grün sind deine Blätter!
O Tannenbaum, o Tannenbaum,
du kannst mir sehr gefallen.
Wie oft hat nicht zur Weihnachtszeit
ein Baum von dir mich hoch erfreut!
O Tannenbaum, o Tannenbaum,
du kannst mir sehr gefallen!

In meinem Leben habe ich schon einige Tannenbäume bestaunt. Zum Beispiel bei meinen Eltern zuhause. Meine Mutter wird auch in diesem Jahr wieder die Strohsterne, Papierengel und Goldpapiergirlanden aufhängen, die wir als Kinder gebastelt haben. Und auch das inzwischen ziemlich zerknitterte Lametta, das sie sorgfältig verwahrt in einer alten Zeitung aus den 60er Jahren. Oder der Baum einer Freundin: Sie hat ein Händchen dafür, ihren Baum jedes Jahr in einer anderen Grundfarbe zu schmücken. In diesem Jahr glänzt er lila und gefällt mir deshalb besonders gut. Und mein eigener Christbaum erzählt die Geschichte unserer großen Patchworkfamilie. Seit zwei Jahren sind mein Mann und ich und nun verheiratet, und an den Ästen unseres Baumes treffen sich die unterschiedlichen Familiengeschichten und verschiedene Traditionen aus unserer Vergangenheit. So viel Grund zu staunen: O Tannenbaum, wie bunt sind deine Blätter!
So ein Tannenbaum will aber nicht nur bestaunt werden, er will uns mit seinem grünen Winterkleid auch einen sachten Wink geben:

O Tannenbaum, o Tannenbaum,
dein Kleid will mich was lehren:
Die Hoffnung und Beständigkeit
gibt Trost und Kraft zu jeder Zeit.
O Tannenbaum, o Tannenbaum,
dein Kleid will mich was lehren.

Hoffnung und Beständigkeit. Trost und Kraft. Wenn ich Ihnen zu Weihnachten etwas schenken könnte, dann würde ich Ihnen diese vier Sachen unter den Tannenbaum legen. In Goldpapier gewickelt. Denn ich schenke gerne etwas, was mir auch selbst guttut, und diese vier Gaben sind mir in diesem Jahr besonders kostbar geworden: Beständigkeit, weil vieles, was ich immer als selbstverständlich hingenommen haben, plötzlich in die Brüche gegangen ist. Wie der Frieden in Europa. Hoffnung, weil ich mit angesehen habe, was junge Leute im Alter meiner Kinder alles tun aus Verzweiflung über den fahrlässigen Umgang mit unserer Umwelt. Sie kleben sie sich auf Straßen fest oder beschmieren Kunstwerke in Museen. Ich möchte ihnen so gern wieder Lust und Hoffnung auf die Zukunft machen, wie es jungen Leuten ansteht. Auch ein großes Kraftpaket möchte ich Ihnen geben, weil ich weiß, wie anstrengend das Leben manchmal ist. Und ganz viel Trost. Weil es nichts Schöneres gibt als getröstet und getrost zu sein.  

Manchmal hilft mir der kleine Buchstabe o dabei auszusprechen und loszulassen, was mir Angst und Sorgen macht. Mit dem O kann ich seufzen und klagen. Und spüren, wie heilsam das ist: O weh, es ist Krieg! O weh, die Erde leidet! O weh, unter so viel Katastrophen! O je, wie lange werden wir noch Gas und Geld zum Heizen haben? O je, was kommt da alles auf uns zu? O je!

Haben Sie gewusst, dass dieser Stoßseufzer sogar ein kurzes Gebet ist? Denn das Je in O Je ist die Abkürzung für Jesus. Und jedes Mal, wenn ein Mensch sein Ojeoje anstimmt, fühlt Jesus sich angesprochen, merkt auf und hört genau hin. Auch damals, als Jesus geboren wurde, war die Welt nämlich nicht in Ordnung.
Hören wir einmal hinein in die Weihnachtsgeschichte. Mein Mann Volker Steinbrecher liest sie aus dem Lukasevangelium in der Übersetzung von Martin Luther:

Lukas 2, 1-5
Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. 

Die große Weltpolitik hat Auswirkungen auf das Leben der kleinen Leute. Das war vor 2000 Jahren nicht anders als heute. Da hat der Kaiser Augustus eine Volkszählung angeordnet, um seine Steuereinnahmen zu verbessern, und jede einzelne Familie musste zusehen, wie sie das für sich organisiert kriegt. Heute will ein Präsident Krieg führen und das Nachbarland überfallen, und junge Männer müssen an die Front. Söhne, Brüder, Väter, Ehemänner. Und alle Menschen in den Kriegsgebieten müssen hinnehmen, dass in ihrem Leben nichts mehr so ist, wie es eigentlich sein soll. So ist es heute und so war es damals schon, zur Zeit, als Jesus geboren wurde. Was der Herrscher sich in den Kopf gesetzt hat, das betrifft die Menschen in den fernsten Provinzen seines Reiches. Da wird nicht gefragt, wer mitmachen will. Wer überhaupt in der Lage ist, weite Wege oder harte Kämpfe auf sich zu nehmen. Lange Fußmärsche sind nun wirklich nichts für eine hoch schwangere Frau. Ich stelle mir vor, wie froh Maria und Josef gewesen sind, als nach vielen Tagereisen endlich das Städtchen Bethlehem in der Ferne am Horizont aufgetaucht ist. Und ich höre ihre Seufzer der Erleichterung.

O Bethlehem, du kleine Stadt, wie stille liegst du hier,
du schläfst, und goldne Sternelein ziehn leise über dir.
Doch in den dunklen Gassen das ewge Licht heut scheint
für alle, die da traurig sind und die zuvor geweint.

Die Freude über die Ankunft in Bethlehem hält allerdings nicht lange an. Denn die Stadt ist völlig überfüllt; nirgends findet sich ein Quartier. Und die Zeit drängt. Denn bei Maria setzen allmählich die ersten Wehen ein.  

Lukas 2, 6+7
Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und 
sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

O Jesulein zart, dein Kripplein ist hart,
o Jesulein zart, wie liegst du so hart.
Ach schlaf, ach tu die Äuglein zu,
schlaf und gib uns die ewige Ruh'!
O Jesulein zart, dein Kripplein ist hart.

Seid stille, ihr Wind’, lasst schlafen das Kind!
All’ Brausen sei fern, es ruhen will gern.
Schlaf, Kind, schlaf, tu die Äuglein zu,
schlaf und gib uns die ewige Ruh’!
Seid stille, ihr Wind’, lasst schlafen das Kind!

Auf der Flucht geboren. Weit weg von zuhaus. Damals, im Februar 1945. Ein eiskalter Winter war das. Trotzdem haben Unzählige sich auf den Weg gemacht. Aus Furcht vor dem Vormarsch und den drohenden Vergeltungstaten einer fremden Armee. Haben nur das Notwendigste mitgenommen. Noch ein paar Schätze im Garten vergraben, wo der gefrorene Boden das zugelassen hat. Mehrere Schichten Kleider übereinander angezogen. Auch schwangere Frauen sind auf den Trecks dabei. Manche sind am Wegesrand niedergekommen. Mit ein bisschen Glück in einer Scheune. Ohne Hilfe, ohne Heizung, ohne Versorgung. Haben ihr Neugeborenes in Windeln gewickelt, in Tücher, in Decken, es in Leiterwagen gelegt, sich um den Leib gebunden. Nicht alle haben diese Strapazen überlebt.

Nichts mehr sich bewegt, kein Mäuschen sich regt,
zu schlafen beginnt das herzliche Kind.
Schlaf denn und tu dein' Äuglein zu,
schlaf und gib uns die ewige Ruh'!
Schlaf, Jesulein zart, von göttlicher Art!

Wer Schmerzen hat, schreit sie mit einem langen A hinaus. Das A ist der Schmerzenslaut. Und Geburten sind weiß Gott eine schmerzhafte Angelegenheit. Wer einen Geburtsvorbereitungskurs besucht, lernt deshalb Atemübungen für den Moment, wenn es so weit ist. Trainiert, den Schmerz der einsetzenden Wehen zu veratmen, tief hinein in den Unterleib. A E I O U. Die fünf Vokale sind im menschlichen Körper nämlich unterschiedlich verortet. Das U reicht am weitesten hinab. Sitzt ganz tief. Das O sitzt dagegen in der Mitte des Körpers, im Fokus rund um den Solarpelxus, dort, wo deine Kraft herkommt. Dein Potential. Das O kommt nach dem Schmerz, nach den Wehen. Mit dem O kommt das Staunen. Mit dem O kommt das überwältigende Gefühl für das Wunder eines neuen Lebens, egal unter welchen Umständen es geboren wurde, egal in welche Welt hinein.

O Kindelein, von Herzen will ich dich lieben sehr,
in Freuden und in Schmerzen, je länger mehr und mehr.
Eia, eia, je länger mehr und mehr.

Dazu dein Gnad mir gebe, bitt ich aus Herzensgrund,
dass dir allein ich lebe jetzt und zu aller Stund,
eia, eia, jetzt und zu aller Stund.

Noch einen weiteren O-Ton finde ich in der Weihnachtsgeschichte. Wir haben schon den Ruf der Erleichterung gehört, die Laute des Staunens über das Wunder des Lebens nach einer schweren Geburt und ein zärtliches Wiegenlied. Und jetzt kommt noch das lautstarke „Boah!“ der Hirten dazu, denen mitten in der Nacht der Himmel aufreißt und ein Engel Ungeheuerliches zu sagen hat:

Lukas 2, 8-14
Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

O Heiland, reiß die Himmel auf,
Herab, herab, vom Himmel lauf!
Reiß ab vom Himmel Tor und Tür,
Reiß ab, wo Schloss und Riegel für!

O Gott, ein' Tau vom Himmel gieß;
Im Tau herab, o Heiland, fließ.
Ihr Wolken, brecht und regnet aus
Den König über Jakobs Haus.

O Erd', schlag aus, schlag aus, o Erd',
Dass Berg und Tal grün alles werd'
O Erd', herfür dies Blümlein bring,
O Heiland, aus der Erden spring.

Die Hirten, die damals auf den Feldern von Bethlehem ihre Schafe gehütet haben, waren vom Leben nicht gerade verwöhnt. Es gab komfortablere Arten, sein Geld zu verdienen als Tag und Nacht bei Wind und Wetter da draußen. Aber was sollten sie machen? Realistische berufliche Aufstiegschancen hatte keiner von ihnen. Und dass sich politisch grundsätzlich etwas ändern würde, daran haben sie schon längst nicht mehr geglaubt. Sie sind halt ihrer Arbeit nachgegangen. Vierundzwanzig Stunden sieben Tage die Woche. Auch an diesem Tag. Irgendwann war Feierabend. Und dann reißt plötzlich der Himmel auf. Auch für dich. Und die Worte eines Engels treffen dich mitten ins Herz und rühren etwas an, was darin schon lange begraben liegt. Und dann kommt alles heraus. Die ganze große Sehnsucht nach einem Leben, das auch ganz anders sein könnte.   

O klare Sonn', du schöner Stern,
Dich wollten wir anschauen gern.
O Sonn', geh auf, ohn' deinen Schein
In Finsternis wir alle sein.

Lukas 2, 15-16
Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. 

O seht in der Krippe  im nächtlichen Stall,
seht hier bei des Lichtleins hell glänzendem Strahl,
in reinlichen Windeln das himmlische Kind,
viel schöner und holder als Engel es sind.

Mit den Hirten an der Krippe stehen. Das ist für mich der Augenblick, in dem das ganze Weihnachtsgewimmel endlich ans Ziel kommt. Und der Moment, in dem auch ich ankommen darf. Nichts mehr tun, nichts mehr vorbereiten, auf nichts und niemand mehr warten muss. Einfach nur da sein. Ich stelle mir die Szene im Stall von Bethlehem vor und suche mir meinen Platz darin. Vielleicht ganz vorne in der ersten Reihe, direkt an der Krippe. Oder doch eher am Rand. Lieber weiter weg und dafür den Überblick behalten. Und dann fange ich an zu staunen. Darüber, dass der Engel mich nicht betrogen hat wie andere, die mir auch schon das Blaue vom Himmel herunter versprochen haben. Darüber, dass in diesem Moment einfach Frieden ist und ich meine Unruhe für eine Weile beiseitelegen darf, genauso wie meine Sorgen um die Zukunft. Und dann nehme ich diesen kostbaren Moment als Einladung, einem Gott mein Vertrauen zu schenken, der solche Geschichten mit den Menschen schreibt. Vielleicht beuge ich meine Knie. Und bete. Und wenn es nur ein einzelnes O ist, das mir über die Lippen geht. Ein Seufzer der Erleichterung. Ein Ausruf des Staunens. Eine Sehnsucht, die endlich herauswill. Oder eine Träne, die fließen darf.

O beugt wie die Hirten anbetend die Knie,
erhebt eure Hände und danket wie sie.
Stimmt freudig, ihr Kinder, wer soll sich nicht freun,
stimmt freudig zum Jubel der Engel mit ein!

Lukas 2, 17-20

Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.

Nun singet und seid froh,
jauchzt alle und sagt so:
Unser Herzens Wonne
liegt in der Krippe bloß
und leuchtet als die Sonne
In seiner Mutter Schoß.
|: Du bist A und O. :|

A und O. Alpha und Omega. Erster und letzter Buchstabe des griechischen Alphabets. In dieser Sprache hat Lukas seine Weihnachtsgeschichte zum ersten Mal aufgeschrieben. Inzwischen ist sie in alle Sprachen der Welt übersetzt worden. Auf Deutsch müssten wir also eigentlich A und Zett sagen. Aber ich bleibe lieber beim A und beim O. Und ich glaube, nach so vielen O-Tönen hören und verstehen Sie nun auch, warum. E liegt so viel in diesem O. Kind in der Krippe, du bist A und O. Bist der Anfang und das Ende. Hast die ganze Welt in deiner Hand. Und dich und mich.

Gottes Segen begleite Sie nun auf Ihrem Weg in die Heilige Nacht.
Gott segne dich mit Hoffnung und Beständigkeit, mit Trost und Kraft zu jeder Zeit.
Vergiss das Staunen nicht, die Sehnsucht und die Zärtlichkeit.
Gott segne deinen Ausgang und deinen Eingang, jeden Anfang und jedes Ende. Amen.

Und nun stimmt ein, singt alle mit, als Antwort, als Bekenntnis: O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!

O du fröhliche, O du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!
Welt ging verloren, Christ ward geboren:
Freue, freue dich, O Christenheit!

O du fröhliche, O du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!
Christ ist erschienen, uns zu versühnen:
Freue, freue dich, O Christenheit!

O du fröhliche, O du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!
Himmlische Heere jauchzen dir Ehre:
Freue, freue dich, O Christenheit!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36772
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