SWR2 Wort zum Tag

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16DEZ2022
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Wichtige Ereignisse im Leben brauchen eine Vorlaufzeit. Es gibt Menschen, die sich auf den ersten Blick verlieben. Doch heiraten werden auch sie in der Regel nicht von einem Tag auf den anderen. Und das ist gut so!

Ich meine, Vorlaufzeiten gehören zum Leben. Wir springen nicht als fertige Wesen unseren Eltern aus dem Kopf wie einst die Göttin Athene dem Göttervater Zeus. Wir Menschen brauchen eine, wir brauchen unsere Weile! 9 Monate haben Mütter Zeit, um sich auf die Geburt ihres Kindes und die Kinder, sich im Bauch ihrer Mütter auf das Leben vorzubereiten. Auch die großen Kirchenfeste haben eine Vorlaufzeit: Sieben Wochen vor Ostern, eine Woche vor Pfingsten und immerhin vier Wochen vor Weihnachten. Vorlaufzeiten sind spannend, weil sie Zeit lassen, sich mit großen Dingen auseinanderzusetzen. Sie sind zugleich abgründig und ambivalent sind. Da kommt in der Verlobungszeit schon einmal die Frage auf, ob der andere tatsächlich der Richtige ist, da fragen sich Eltern, ob sie den Anforderungen eines kleinen Kindes tatsächlich gewachsen sind. Da ist ganz viel Liebe und zugleich die Angst davor, nicht genug lieben zu können - oder auch nicht genug geliebt zu werden. Und so liegen in diesen Zeiten himmelhoch jauchzende Begeisterung und unruhige Bangigkeit manchmal ganz nahe beieinander. Folgerichtig sind auch die Lieder der Adventszeit nicht durchgehend fröhlich, viele dunkle Töne, viele Fragen klingen mit. „Wie soll ich dich empfangen?“ fragt Paul Gerhard in einem Adventslied, und das klingt verzagt und zärtlich zugleich, sehnsuchtsvoll und zögernd. Auch das Wort „empfangen“ ist so vielschichtig, kann die Begrüßung eines Königs genauso meinen wie die Zeugung eines Kindes und den Liebesakt. Die Adventszeit schenkt Raum für das Nachdenken über diese großen Fragen, gestaltet mit ihren Ritualen den Weg zum Fest und die Wartezeit.

Sicher, manchmal würde ich diesen Prozess auch am liebsten abkürzen, so wie ein Kind, das heimlich in die Keksdose greift. Erwachsen geworden weiß ich, dass ich Zeit brauche, dass ich mir die ganze Freude am Fest nehmen kann, wenn ich nicht auch die Höhen und Tiefen durchhalte, die zur Vorbereitung dazugehören.

Am Ende des Wartens geschieht die Geburt, ereignet sich das Fest. Und ich merke dann, rückblickend, dass ich meine Zeit gebraucht habe, um dann mit ganzem Herzen mitfeiern zu können.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36715
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