SWR1 3vor8

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04DEZ2022
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Jerusalem steht unter gewaltigem Druck. Ich spreche vom achten Jahrhundert vor Christus, damals zur Zeit des Propheten Jesaja. Es ist ein Druck, der von innen und außen kommt. Das Land ist gespalten und viele sind so arm, dass ihre Not zum Himmel schreit. Jesaja prangert das an und sieht zugleich, wie sein Volk von dem immer näher rückenden Großreich Assyrien bedroht wird. Was kann er als Prophet tun? Er redet seinen Landsleuten ins Gewissen und zeigt ihnen ihre Fehler auf. Da ist er schonungslos. Aber gleichzeitig macht er ihnen Mut zusammenzuhalten, weil sie nur so eine Chance haben werden gegen die Bedrohung von außen. Jesaja weiß, dass es eine Vision braucht, eine Perspektive, die die Zukunft offenhält. Die größte Hoffnung dabei liegt auf der Hand: Frieden. Dass Frieden möglich ist, davon spricht der Prophet in immer neuen Bildern. Wie denen, die heute in den katholischen Gottesdiensten zu hören sind.

Der Wolf findet Schutz beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein.

(…)

Der Löwe frisst Stroh wie das Rind.

Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter und zur Höhle der Schlange streckt das Kind seine Hand aus.[1]

Ein wunderschönes Bild, dass die Geschöpfe so in Einklang miteinander leben. Es gibt keine Gejagten mehr und keine Beute. Wer jetzt meint, das sei ein Hirngespinst, der kennt nicht die vielen Beispiele aus der Tierwelt, wo die Großen auf die Kleinen aufpassen, die Starken sich um die Schwachen kümmern. Da gibt es zum Beispiel Hunde, die ein krankes Eichhörnchen bei sich aufwachsen lassen. Und Raubkatzen, die sich um ein Antilopenjunges kümmern. Das gibt es tatsächlich, obwohl es die Ausnahme ist! Nur leider und bezeichnenderweise taucht in der Vision des Jesaja gerade mal ein Baby auf, nicht aber der erwachsene Mensch. Und das erinnert mich auf erschreckende Weise an einen Satz des vor kurzem verstorbenen Dichters Hans Magnus Enzensberger: „Der Mensch ist der Einzige unter den Primaten, der die Tötung seiner Artgenossen planvoll, in größerem Maßstab und enthusiastisch betreibt. Der Krieg gehört zu seinen wichtigsten Erfindungen.“[2] Ich fürchte, Enzensberger hat recht. Ich sehe mit Sorge, wie Menschen aufeinander losgehen. Und ich spüre die angespannte Stimmung, die auf unserer ganzen Welt herrscht. Wie so viele fühle ich mich dabei einigermaßen ohnmächtig. Aber eines kann ich immer und immer wieder tun: Vom Frieden sprechen. Und die Hoffnung nicht aufgeben, dass der Mensch auch dazu in der Lage ist.

 

[1] Jesaja 11,6.8

[2] Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993. S. 9

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36645
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