Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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09NOV2022
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Heute ist es wieder da, - dieses schwere Datum: der 9. November. Wäre ich in meiner früheren Heimat Tübingen, würde ich am Abend die Gedenkstunde zur Pogromnacht besuchen. Ich würde hören, wie es 1938 zuging, als die Tora-Rolle in den Neckar geworfen wurde und später die Synagoge in Flammen stand. Es erschreckt mich jedes Mal wieder aufs Neue, wie sich in einer so schönen Stadt dieses menschenverachtende Gedankengut breitmachen konnte; Unglücklicherweise ist es nicht bei Gedanken geblieben. Es war ausgerechnet ein Einwohner der malerischen Altstadt, der sich die tödlichen Pläne zur Deportation der Juden ausgedacht hat, denen Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind.

Als Christin stelle ich mir immer wieder neu die Frage: Wie konnte es so weit kommen, dass viele Menschen, die sich als gläubige Christen sahen, bei diesem Unrecht mitgemacht haben? Wie konnte jemand die Bibel lesen und so zerstörerisch handeln? Die Bibel ist voll mit Liebeserklärungen Gottes an das Jüdische Volk. Für Gott ist und bleibt es die Nummer eins. So steht zum Beispiel im Buch des Propheten Sacharja: „Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an.“  Ich finde es krass, wie Demagogen es geschafft haben diese eindeutigen Botschaften von den Kanzeln aus zu vernebeln.

Leider zeigen mir Entwicklungen der jüngsten Zeit, dass die Gefahr für Jüdinnen und Juden und auch andere Personengruppen nie ganz vorbei ist. Deshalb dürfen wir als Zivilgesellschaft niemals nachlassen, uns für die Rechte derer einzusetzen, die an den Rand gedrängt werden. Der 9. November lehrt mich: Gegen Menschenverachtung vorzugehen bleibt eine Daueraufgabe. Denn wie viel Leid hätte verhindert werden können, wenn sich damals die Nachbarn schützend vor die jüdische Gemeinde und ihr Gotteshaus gestellt hätten. Dieses Versäumnis darf nicht wieder passieren. Deshalb will ich mich schützend vor alle Minderheiten stellen. Und zwar überall. Und egal, ob Personen oder Gruppen direkt oder indirekt angegriffen werden. Sei es in den sozialen Medien, in persönlichen Gesprächen oder bei öffentlichen Podiumsdiskussionen. Ich finde: Wir alle stehen in der Verantwortung. Und die beginnt schon dann, wenn die Lügen noch als verdrehte Halbwahrheiten daherkommen. Sie dürfen nicht unwidersprochen bleiben. Heute ist ein bitterer Tag; und zugleich ist es ein wichtiger Tag, der uns lehrt, niemals nachzulassen.

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