Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

04NOV2022
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Ich höre die Sängerin schon von weitem und folge ihrer klaren, anmutigen Stimme. Sie singt ganz alleine. Unter einem Mauerbogen vor dem Salzburger Dom. Die Frau ist jung und trägt einen dunkelblauen langen Rock. Er glänzt und bewegt sich mit dem leichten Wind, der vor dem Domplatz weht. Die Musik, die sie begleitet, kommt aus ihrem Handy. Fast unbemerkt holt sie es aus ihrer Rocktasche und ebenso unauffällig lässt sie es dorthin zurückgleiten. Manche Stücke kenne ich, andere nicht. Verzaubert bin ich eine kleine Ewigkeit stehen geblieben. Es war eine Szene, die sich mir eingeprägt hat. Fahrräder sind an der Frau vorbei gerollt, Menschen waren zu Fuß auf dem Weg in die Mittagspause oder sonst wohin. Es war laut und heiß. Für mich ist dort vor dem Dom einen Augenblick lang die Welt still gestanden. Der Himmel war offen, der Boden heilig. Die junge Frau hat mir das Herz geöffnet. Ich habe sie nach ihrem Namen gefragt und wollte wissen, wo sie lebt. Lucia kommt aus Prag. Ihr Name könnte kaum besser zu ihr passen, habe ich damals gedacht: Denn der Name Lucia bedeutet: die Licht bringende, die Leuchtende.

Dorothee Sölle ist mir später zu diesem Moment eingefallen. Die große Theologin. In einem ihrer Texte erinnert sie eine Szene, die sich auf einer Reise zugetragen hatte. Sie besuchte mit ihren Kindern eine Kirche, eine ziemlich hässliche. Und eines ihrer Kinder sagte spontan: „Ist kein Gott drin.“ Ihren Kindern hat Dorothee Sölle gesagt: Genau das soll in euerm Leben nicht so sein. Es soll „Gott drin sein“ am Meer und in den Wolken, in der Kerze, in der Musik und, natürlich, in der Liebe.“

Dass „Gott drin ist“ in Lucia aus Prag kann ich hören und sehen. Wenn sie singt, wie sie lächelt und sich über Beifall freut. Wenn ihre Füße anmutig nebeneinander stehen. Ich kann spüren, dass „Gott drin ist“ im Sommerwind, der Lucias dunkelblauen Rock bewegt.

Es gibt viele Zeiten in meinem Leben, in denen ich Gott nirgendwo spüre. Umso wertvoller ist die große Sammlung der Augenblicke, die mir den Himmel öffnen – wie an jenem Mittag Lucia aus Prag. Diese Momente sind wie Fenster, die mich sehen lassen, dass Gott überall drin ist. Auch wenn ich es nicht immer wahrnehmen kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36433
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