SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

25SEP2022
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Ein 23-jähriger Mann hält einen ICE auf. Er stellt sich in die Tür und verhindert die Abfahrt. Der Grund: Die Pizza, die er und seine Begleiter bestellt haben, ist noch nicht da. Als es den Zugbegleitern nicht gelingt, den Mann aus der Zugtüre zu entfernen, holen sie die Polizei. Am Ende verlässt der ICE mit 15 Minuten Verspätung den Essener Hauptbahnhof. Was sich so unglaublich anhört, als wär’s erfunden, hat sich am 28. August zugetragen.

Ich erzähle diese Episode, weil es kein Einzelfall ist, dass Menschen sich so verhalten. So egoistisch. Und es unter Umständen gar nicht bemerken. Es für ihr Recht halten, einen Zug anzuhalten, Politiker zu beschimpfen, Nachbarn zu drangsalieren. Manche merken erst, wenn man sie mit der Nase draufstößt, dass es da neben ihnen noch andere gibt, die durch ihr Verhalten beeinträchtigt sein könnten.  In einem ICE sitzen hunderte von Menschen, deren ganze Tagesplanung durcheinandergerät. Politiker müssen Entscheidungen treffen und können es nicht allen recht machen. Ihnen böse Absichten zu unterstellen, und die sachliche Ebene des Gesprächs zu verlassen, nur weil sie nicht so entschieden haben, wie man es sich gewünscht hat, das nenne ich egoistisch.

Für einen Sonntagmorgen ist das kein erbauliches Thema. Ich weiß. Aber ich muss darüber sprechen, weil ich Christen dabei in besonderer Verantwortung sehe. Christen sollen sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht egoistisch handeln. Das ist das eine. Das andere: Sie sollen darauf aufmerksam machen, wo ihnen Egoismus begegnet und etwas dagegen tun. So jedenfalls verstehe ich das Gebot der Nächstenliebe. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Es ist zusammen mit der Liebe zu Gott das christliche Hauptgebot. Und beide Aspekte dieses Hauptgebots haben das gleiche Ziel: dass der einzelne Mensch sich nicht zu wichtig nimmt, nicht wichtiger als den anderen, mit dem er lebt - und erst recht nicht wichtiger als Gott. Dieses Gebot soll verhindern, dass der Einzelne sich auf einen Thron setzt und auf die anderen herabschaut. Und vor allem: dass er andere beleidigt, ihnen wehtut, sie aburteilt, ihnen nicht wie ein Mensch auf gleicher Ebene begegnet. Im Christentum gilt eben nicht der fatale Satz: „Jeder ist sich selbst der Nächste.“ Genau das nicht. Sondern das Gegenteil: Keiner lebt für sich allein. Es gibt immer einen anderen, auf den es genauso achtzugeben gilt, wie auf sich selbst. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Dieser Nachsatz ist entscheidend. Wie dich selbst. Aber dazu mehr im zweiten Teil, gleich nach der Musik.

ZWISCHENMUSIK

Egoismus und Nächstenliebe: Das widerspricht sich. Und weil die Nächstenliebe das wichtigste Gebot im Christentum ist, müssen Christen darauf besonders achtgeben: wo es egoistisch zugeht. Darüber spreche ich heute in den SWR4-Sonntagsgedanken.

Vielleicht können manche es nicht mehr hören, wenn von der Nächstenliebe geredet wird. Weil es ihnen abgedroschen vorkommt. Und sie sich denken: Davon zu reden, ist das eine, es in die Tat umzusetzen, etwas ganz anderes. Weil sie auch in der Kirche oft genug erlebt haben, dass es mit der Liebe zum Nächsten nicht weit her ist. Viele nehmen es deshalb Christen nicht mehr ab, dass ihnen das wichtig ist, heilig gar. Ich verstehe das. Aber das macht es nicht weniger wichtig, anderen mit Respekt und Anstand zu begegnen.

Jedenfalls hält das christliche Gebot der Nächstenliebe eine Faustregel bereit, um egoistisches Verhalten aufzuspüren. Die Liebe zu den Menschen, mit denen man zu tun hat, muss sich an dem ausrichten, was man selbst auch erwartet. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Wer das vergisst oder es nicht kann, für den hängt das Gebot in der Luft. Für den ist der andere weit weg, weil er von sich selbst weit weg ist. Das ist aber die Voraussetzung: Ich muss lernen zu verstehen, was ich selbst erwarte und was ich unter keinen Umständen will, dass es mir passiert. Wenn ich das weiß, werde ich andere nicht schlechter behandeln, als ich es für mich erwarte.

Dann bleibe ich nicht sitzen, wenn ich sehe, dass ein älterer Mensch im Bus einen Sitzplatz braucht. Weil ich hoffe, dass mir später auch mal jemand einen anbietet. Ich beschimpfe dann niemanden, weil er etwas sagt, das mir nicht passt, sondern überlege, wie sachlich ich mir eine Auseinandersetzung wünsche, und sei sie noch so kontrovers. Dann unterstelle ich denen, die uns regieren, keine böse Absicht, weil ich das auch nicht will an den Stellen, wo ich Verantwortung trage.

Es könnte sein, dass wir in den zurückliegenden Jahrzehnten zu sehr darauf getrimmt worden sind, uns als Einzelne zu behaupten, uns durchzusetzen gegen die Allgemeinheit. Und viele darin ihr Heil sehen, dass sie sich selbst verwirklichen können. Es ist gut, wenn ich für mich sorge. Aber nur, wenn ich mich dabei nicht wichtiger nehme als jeden anderen. Sonst kippt die heikle Balance in unserer Gesellschaft. Hinweise darauf, wo es egoistisch zugeht, gibt es leider genug. Das Gegenteil bleibt aber auch nicht unbemerkt. Echte Nächstenliebe überzeugt immer!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36225
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