Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Von Rainer Maria Rilke stammt ein Gebet, das mich zum Nachdenken über mein Gottesbild angeregt hat und mich seit Wochen nicht loslässt :

Ich sprach von Dir als von dem sehr Verwandten,
zu dem mein Leben hundert Wege weiß,
ich nannte dich: den alle Kinder kannten,
den alle Saiten überspannten,
für den ich dunkel bin und leis.

Ich nannte dich den Nächsten meiner Nächte
und meiner Abende Verschwiegenheit, -
und Du bist der,
den keiner sich erdächte,
wärst du nicht ausgedacht seit Ewigkeit.
Und du bist der, in dem ich nicht geirrt,
den ich betrat wie ein gewohntes Haus.
Jetzt geht dein Wachsen über mich hinaus:
Du bist der Werdenste, der wird.


Der Werdenste der wird….ein schöner Gedanke, aber widerspricht er nicht allen Theologen, die sich diesen Gott als denselben immerdar vorstellen? In ihren Ohren mag es fast tollkühn klingen, Gott ein Entwicklungspotential zuzuschreiben…als ob er nicht bereits vollkommen wäre.
Ich bin hin und her gerissen, aber mir gefällt diese Formulierung: Du bist der Werdenste der wird. Entwicklung an sich – Leben per se
Ein Wohlvertrauter und doch Fremder. Einer, der sich in kein Schema pressen lässt, den ich letztlich nicht fassen kann. Der aber ist.
Im Werden…also in Bewegung ist.
Schon im letzten Jahrhundert forderte der große Theologe Teilhard de Chardin die Christen auf, ihr Gottesverständnis zu überdenken. Er schreibt, er selbst bemühe sich um „eine Frömmigkeit, in der der persönliche Gott aufhört der jungsteinzeitliche Großgrundbesitzer von ehedem zu sein, um zur Seele der Welt zu werden…“.
Gott als Seele der Welt. Diese Vorstellung gefällt mir gut. Wenn etwas eine Seele hat, beseelt ist, dann ist das spürbar. Vorausgesetzt man hat eine Antenne dafür oder ist fähig, diese wieder auszufahren.
Wenn ich mich von dieser Seele der Welt anrühren lasse, wird sie mir vielleicht auch erst. Dann bekomme ich eine Ahnung von Gott und kann mit Rilke sagen: „Du bist der Werdenste der wird.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=3562
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