Ne, dachte ich, Smalltalk gegen Tyrannei, echt jetzt??? Aber genau so stand es da Schwarz-auf-Weiß. In seinem Buch „Über Tyrannei“ stellt Timothy Snyder in zwanzig Lektionen dar, wie man gegen Tyrannei Widerstand leisten kann – und die 12. Lektion lautet: Augenkontakt und Smalltalk. Smalltalk als Mittel für den Widerstand gegen Tyrannei und Menschenfeindlichkeit?

Ich weiß nicht, warum, aber es hat mich die folgenden Tage nicht losgelassen: Warum denkt der Autor dieses Buches über Tyrannei, das ausgerechnet Smalltalk gut sei?
Smalltalk, das ist für mich oberflächlich, unverbindlich, belanglos. Wie soll das helfen gegen etwas so tiefgreifendes wie Tyrannei?

In den kommenden Tagen habe ich einmal darauf geachtet, wo ich Smalltalk mache:
Auf der Hundewiese smalltalkten wir über das Wetter, mit meinem Nachbarn über Mülltonnen und mit der Kollegin über das Essen am Wochenende. In der Tat: oberflächliches, unverbindliches, belangloses Gequassel. Aber es war auch: höflich und freundlich.

Ohne Smalltalk würden wir einfach nur nebeneinander her leben, ohne Verbindung, ohne Kontakt zu unseren Mitmenschen. Smalltalk ist der erste Schritt auf einen anderen Menschen zu. Mit manchen bleibt es so freundlich-unverbindlich, mit anderen entwickelt sich mit der Zeit mehr.

Und je mehr ich darüber nachgedacht habe, desto mehr habe ich diese alltäglichen Worte und Gesten schätzen gelernt: ein Lächeln, ein freundliches Händeschütteln, ein einfaches Hallo oder Guten Tag. Der andere, aber auch ich selbst fühlen sich gleich viel wohler.

Mit der Zeit habe ich begriffen, dass Timothy Snyder recht hat: mit Smalltalk beginnt ein friedlicheres Miteinander. Smalltalk ist der Ausgangspunkt und die Basis für ein friedliches Miteinander aller Menschen – und insofern wirklich Widerstand gegen jegliche Art von Tyrannei.

Timothy Snyder „On Tyranny: Twenty Lessons from the Twentieth Century” illustrated by Nora Krug 2021