SWR2 Zum Feiertag

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15APR2022
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Martina Steinbrecher:
Der Karfreitag galt lange als höchster Feiertag im Protestantismus. Diese herausgehobene Stellung hat er jedoch längst eingebüßt. Während der Gottesdienstbesuch also stark zurückgegangen ist, sind Passionskonzerte, in denen eine der großen Passionen von Johann Sebastian Bach aufgeführt werden, in der Regel ausverkauft. Und zwar trotz ihrer erheblichen Länge von zwei oder drei Stunden Aufführungsdauer.
Warum diese Werke sich ungebrochener Beliebtheit erfreuen, während die ihnen zugrunde liegende Kreuzestheologie stark in die Kritik geraten ist, darüber spreche ich heute mit Sebastian Hübner. Für den 58jährigen Tenor und Dirigenten eines Kammerchors ist der Karfreitag einer der intensivsten Arbeitstage im Jahr. Sechzig Mal hat er die Partie des Evangelisten in der Johannespassion schon gesungen und ungefähr vierzig Mal die Matthäuspassion.

Sebastian Hübner:
Für mich sind diese beiden Passionen schon auch in meinem Sängerberuf sehr zentrale Stücke. Ich singe sie jedes Jahr bis auf das Jahr 2020 mit den Lockdowns. Das war für viele Kollegen und Kolleginnen und für mich das erste Jahr seit ganz langem. Bei mir waren es, glaube ich25 Jahre, in denen ich keine von diesen großen Passionen gesungen habe, überhaupt kein einziges Passionskonzert.

Martina Steinbrecher:
Hand aufs Herz: Welche gefällt dir besser? Die Matthäus-Passion oder die Johannes-Passion?

Sebastian Hübner:
Ich werde oft gefragt, und ich kann mich beim besten Willen nicht entscheiden. Wenn ich die Matthäus-Passion singe oder höre, dann ist das in diesem Moment für mich das wunderbarste Musikstück und mit der Johannespassion ergeht es mir genauso. Sie sind ganz unterschiedlich vom Charakter. Aber ich könnte jetzt nicht sagen, die eine ist

Martina Steinbrecher:
Wenn es nicht zur Routine wird, sondern als fester Bestandteil in deinen Jahreskreislauf gehört, wie geht es dir dann damit? Was erlebst du beim Singen?

Sebastian Hübner:
Mein wichtigster Gesangslehrer Albrecht Ostertag, der sagte mal zu mir: Wenn du eine Matthäus-Passion gesungen hast, dann bist du ein anderer Mensch. Das sind jetzt recht große Worte, und das kann man natürlich auch nicht in irgendeinem Sinn erfüllen, aber ich vermeine davon auch immer etwas wahrzunehmen. Dass das einfach auch was mit uns Aufführenden macht, nicht nur mit den Zuhörenden, sondern auch mit uns. Dass wenn du so eine große Partie singst – und diese Evangelisten-Partie ist riesig – und vielleicht sogar noch die Arien dazu, das ist einerseits eine hohe Leistung, aber es ist durch diesen Gehalt dieser Musik … irgendwie das geht so durch und durch. 

Martina Steinbrecher:
„Ein anderer Mensch werden“. Ja, das sind große Worte. Aber sie passen zu biblischen Worten, die am Karfreitag immer wieder gepredigt werden. Im zweiten Korintherbrief schreibt Paulus: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ Ich kann mir vorstellen, dass Menschen nicht nur beim Singen, sondern auch beim Zuhören etwas von dieser Erneuerung, von dieser verwandelnden Christuskraft spüren.

Sebastian Hübner:
Es macht was mit dir. Es macht was mit dir und du bist nicht ein komplett anderer Mensch. Also ich finde dieses Wort auch sehr groß, aber es ist nicht einfach so, das mach ich jetzt mal, da diese 2000 Töne und dann weiter zur Tagesordnung.

Martina Steinbrecher:
„Es macht was mit mir“. Das erleben wohl auch die Menschen, die Passionskonzerte besuchen. Denn während ein Gottesdienst am Karfreitag nicht mehr von vielen als Höhepunkt wahrgenommen wird, scheint eine dreistündige Matthäuspassion attraktiv, sogar ein echtes Erlebnis. Warum das so ist, frage ich Sebastian Hübner.

Sebastian Hübner:
Ich denke, dass die Musik von Bach einen Gehalt hat, der Menschen anspricht, die vielleicht nicht mehr sich so sehr durch die Karfreitagspredigt oder den Sonntagsgottesdienst ansprechen lassen, die sich vielleicht von den schlechten Pressemeldungen und den Skandalen und all diesen Dingen, die der Kirche schwer zusetzen, abgestoßen fühlen oder sich abwenden. Und dann hören sie so eine Musik, und da gibt es dann wieder einen Zugang auch für Menschen, die nicht so fromm sind. Ich glaube, es geht vielen Menschen so, dass in der Musik ein transzendenter Gehalt zu sein scheint. Sag ich mal, wenn ich kein Deutsch verstünde, und ich würde diese Musik hören, dann würde ich vielleicht transzendente Wahrnehmung über die Musik haben. Und das spricht sehr viele Menschen an, glaube ich.

Martina Steinbrecher:
Musik als Transzendenzerfahrung; da stimme ich gerne zu. Aber als Frau des Wortes regt sich da auch ein professioneller Widerstand in mir. Und ich glaube, dass ich sogar den Komponisten der himmlischen Musik auf meiner Seite hätte: Denn Bach vertont ja Botschaften: Bibelworte, deutende Worte. Und seine Musik stellt er in den Dienst dieser Worte. Unterstreicht ihren theologischen und emotionalen Gehalt, holt alles aus ihnen raus. Und die Passionen bieten ja inhaltlich schwere Kost. Die Leidensgeschichte Jesu wird en detail erzählt. Nichts wird ausgelassen. Dazu Chöre und Arien, die anspruchsvolle Theologie transportieren, deren Aussagen echte Zumutungen sind.

Sebastian Hübner:
Da musste ich mich wirklich mühsam reinarbeiten und erinnere mich gut, dass ich als junger Mensch auch geradezu Widerwillen hatte gegen diese Texte in den Arien. Aber mit der Zeit konnte ich es immer besser übersetzen und eigentlich das zeitlose in diesen Texten entdecken und eigentlich sind die Themen in vielen Fällen immer noch die gleichen. Die Worte haben sich sehr gewandelt. Aber worum es geht, das ist eigentlich aktuell nach wie vor.

Martina Steinbrecher:
Und dann gerät Sebastian Hübner ins Schwärmen. Er singt mir die Arie Nr. 32 vor, ausgerechnet eine Bass-Arie, die eigentlich gar nicht seiner Stimmlage entspricht. Aber ich merke, wie sehr er in diesem Werk zuhause ist und darin lebt.

Sebastian Hübner:
In der Arie Nummer 32 „Mein teurer Heiland, lass dich fragen“ aus der Johannespassion jetzt, nur um ein Beispiel mal herauszugreifen, da geht es um Fragen. Ganz ungewöhnlich! Wunderbar! Der Solist, der Bass-Solist, der stellt die ganze Zeit Fragen, das erlebt man sonst in den Arien nicht so häufig. Das ist so toll. Dieser Sänger stellt Fragen, die sich theologisch vielleicht für uns ein bisschen anders darstellen, aber rein menschlich. Klar, jeder von uns stellt sich irgendwann solche solcherlei Fragen wie: Wie hängt das alles zusammen? Und wie geht es vielleicht weiter? Und was passiert, wenn ich sterbe? Und so weiter. Das ist doch total aktuell. Und dann kommt in dieser Arie ein Choral eingebaut. Der Chor singt ein bisschen im Hintergrund einen ganz langsamen Choral in diese Bass-Arie hinein.
Unglaublich schön, dieses Zusammenspiel aus diesem fragenden Solisten, das könnte einer von uns sein, und dahinter wie so eine etwas übergeordnete große Kraft, die auf eine andere Ebene geht. Und das Ganze genau nach der Stelle, als es heißt „und neiget das Haupt und verschied“, könnte man meinen, jetzt kommt irgendetwas Tieftrauriges, total molto adagio, tränenüberströmt. Und dann kommt ein Zwölfachteltakt. Ein Tanz. Diese Arie ist ein Tanz. Völlig überraschend. Und dann kommt dieser fragende Bass-Solist und diese Gemeinde. Also ein großartiger Moment in dieser Passion.

Martina Steinbrecher:
Großartig ist es auch, von Sebastian Hübner durch die vielen Musikstücke der Passion geführt zu werden, die ihn berühren. Aber irgendwann ist auch das schönste Stück einmal zu Ende:  

Sebastian Hübner:
Und dann, ganz ungewöhnlich in der Johannespassion: Es gibt einen großen Schlusschor. Sehr berührend. „Ruht wohl, ihr seligen Gebeine.“ Und dann könnten wir eigentlich Schluss machen damit. Mit diesem Schlusschor wäre eigentlich alles gut, aber dann kommt noch ein Choral. Ein wunderbarer Choral. „Ach Herr, lass dein lieb Engelein …“ Das ist auch so eine Besonderheit der Johannespassion, dass sie mit einem Choral endet, sehr schlicht, also schlicht ist er gar nicht. Er ist sehr, sehr intensiv. Aber … find ich sehr besonders. Vielleicht am Anfang des Chorals noch sehr sanft und leise den Leib in seinem Schlafkämmerlein ruhen lassen. Dann kommt aber so eine wirkliche Form von Vision oder das kann man sich dann überlegen, ob man das persönlich für sich so sehen kann, aber schon sehr kraftvoll, dieses Ende.

Martina Steinbrecher: Viele Menschen haben sich den Schlusschoral aus der Johannespassion als Lied für ihre Beerdigung gewünscht. Auch mich hat er immer berührt und getröstet.

Ach Herr, lass dein lieb Engelein
Am letzten End die Seele mein
In Abrahams Schoß tragen.
Den Leib in seim Schlafkämmerlein
Gar sanft ohn alle Qual und Pein ruhn bis am Jüngsten Tage!
Alsdann vom Tod erwecke mich,
dass meine Augen sehen dich
in aller Freud, o Gottessohn,
mein Heiland und mein Gnadenthron!
Herr Jesu Christ, erhöre mich,
ich will dich preisen ewiglich.

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