SWR3 Gedanken

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01JAN2022
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Prost Neujahr! Oder „Proscht Naijohr“. So stelle ich es mir heute vor. Ich halte sie hoch, die Neujahrsbrezel. Oben steht Tante Heidrun. Am Balkon im Wohnstift - einziger Besuchsort in Quarantänezeiten. „Proscht Naijohr“, ruft sie hinunter, „e Brezel wie e Schaierdoor“. Und ich zurück: „En Kuche wie e Oofebladd, do wer mer all minanner sadd!“ Ein Pfälzer Segenswunsch. Will sagen: Brezel wie ein Scheunentor. Kuchen wie eine Ofenplatte. Dass alle satt werden.

Sie wird seufzen, denn sie knabbert noch an ihrem neuen Leben. Besonders im Speisesaal, bei Kamillentee und angetrockneten Käsescheiben. Heidrun. Ich sehe sie oben am Balkon. Wie auf dem Foto an der Treppe. Stattlich, blond, rotes Band um den Bubikopf. Ein wenig Rot musste immer sein. Dazu ein breites Lächeln zum schmalen Kostüm. Flugbegleiterin ist sie gewesen, weltgewandt. Ich stehe ein paar Stufen darunter, 10 Jahre, schüchternstolz. In der Hand den Stecken mit der Neujahrsbrezel und bunten Bändern. Lang ist´s her.

„Gesegnetes Neues“, werd ich heute hoch rufen. „Ich bin ja eh aus der Zeit gefallen“, sagt Tante Heidrun dann leise. Denn das ist sie, nachdem sie gestürzt war. Raus gefallen aus ihrer Welt, der Wohnung, den chicen Bauhaus-Sesseln, rein ins beige Abwaschdesign des Pflegeheims. Und doch – und das ist wunderbar - fängt sie jeden Tag neu an. Frischt etwa ihr Englisch auf, mit Nachbarin Margret. „New years pretzel means good luck.“ Ich bringe sie gleich vorbei - auf good luck - die süße Brezel wie ein Scheuertor. Aber klar doch, mit rotem Band.

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