SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Teil 1
Manchmal müssen die Beine dem Kopf zu Hilfe kommen, nicht nur dem älter und vergesslich gewordenen Kopf. Eben noch war der Gedanke da - und dann ist er einfach weg. Selbst mit angestrengtem Grübeln kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur: es war etwas Wichtiges. Und dann das Erstaunliche: Ich gehe zurück zu dem Ort, wo ich den Gedanken gedacht habe - vielleicht war es am Küchenschrank- ,und dann fällt es mir wieder ein: Das wolltest du tun.

Oder zum Beispiel nachts: Statt noch eine weitere Stunde grübelnd wach zu liegen, ist es ganz nützlich, aufzustehen und sich einfach auf die Beine zu stellen.

Wenn Nachdenken nicht hilft, eine Situation zu bewältigen, kann ich meine Beine gebrauchen: Ich gehe auf die Situation zu und handele. Statt mich mit allen möglichen Phantasien über einen Menschen herumzuschlagen, gebrauche ich meine Beine, gehe auf die Person zu und kläre, was zu klären ist.

Kopf und Beine, Denken und Gehen gehören zusammen. Das war schon im alten Griechenland so, wo bekanntlich das Philosophieren seinen Anfang nahm. Schon der erste Philosoph war Spaziergänger. Thales hieß er. Beim Spazierengehen fiel er zwar in einen Brunnen, weil er mit seinen Gedanken mehr beim Himmel war und vor lauter Nachdenken über den Himmel übersah, was direkt vor seinen Füßen lag. Deshalb lauthals von einer Magd ausgelacht, waren seine Gedankengänge doch erfolg- und einflussreich. Sein Sturz in den Brunnen war alles andere als ein Reinfall.

Ich gehe einen Schritt weiter: Was beim Denken hilft, bringt auch den Glauben in Bewegung. Für Christen ist dabei weniger Thales das treffende Beispiel als vielmehr Jesus, der Wanderprediger.

Um „über Gott und die Welt“ ins Gespräch zu kommen, war er unterwegs zu den Menschen. Mal waren es die Stufen des Tempels, mal der Rand eines Brunnens, wo er sich zum Gespräch niederließ. Mal von einem Fischerboot aus und dann wieder auf einem Hügel im Land redete er von Gott und der Welt, wie sie sein soll. Zum Flaneur und Wanderprediger Jesus passt es, dass er selbst keine schriftlichen Werke hinterlassen hat. Aber sein Weg durchs Land, seine Gespräche auf dem Berg, am Brunnen, auf dem Tempelvorplatz, seine Heilungen kranker Menschen waren so bewegend, dass andere das aufgeschrieben haben. In der Bibel können wir das lesen. Und so bringt Jesus bis heute Menschen in Bewegung. Dass sie aufbrechen aus eingefahrenen Gleisen, dass sie ihm nachfolgen auf dem Weg, den er gezeigt hat und gegangen ist, das war ihm wichtig. Sich in Bewegung setzen, um Gott unter die Menschen zu bringen – das hat Jesus getan. Dazu hat er seine Nachfolger ermutigt.

Teil 2
Dem Glauben auf die Beine helfen - ein alt überliefertes Wort des Propheten Micha benennt es konkret:

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist
und was Gott bei dir sucht:
Nichts anderes als Recht üben, Freundlichkeit lieben
und aufmerksam mitgehen mit deinem Gott.

Ich finde: das ist ein schönes, sprechendes Bild: „Aufmerksam mitgehen mit deinem Gott“. Manche sagen dazu „Nachfolge“. Bildhafter finde ich aber diese Umschreibung: „Aufmerksam mitgehen mit deinem Gott“. Gott will uns also zu seinen Weggefährten haben. Nicht klein machen will er uns. Wenn Menschen darunter leiden, dass sie sich wegen ihres verfehlten Lebens nicht mehr achten können - Gott achtet uns. Er lädt uns ein, trotz verfehlten Lebens seine Weggefährten zu sein.

„Aufmerksam mitgehen mit deinem Gott“. Also mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben. Nicht abheben in grandiose Träume: Dass ich etwas ganz Besonderes leisten muss, um mein Leben gelingen zu lassen. Zugegeben, manchmal ist es leichter, sich in frömmelnden Phantasien zu verstecken - zum Beispiel: dass ich der größte aller Sünder, der schlimmste Versager sei - und dass deshalb von mir sowieso nichts zu erwarten ist. Manchmal erlebe ich es dann wie eine Zumutung, dass ich mich in die Reihe der Normalen einreihen und schlicht den Weg mit Gott mitgehen, also sein Weggefährte sein soll.

Wie kann das aussehen: mit Gott aufmerksam mitgehen? Ich glaube, das lässt mich manche Dinge neu sehen und anders bewerten. Wer aufmerksam mit seinem Gott mitgeht, fragt nicht: Was ist nützlich für eine bestimmte Interessengruppe? Was dient dem eigenen privaten Glück? Was passt zu einer bestimmten Ideologie oder dem Gedankengut einer bestimmten Partei? Aufmerksam mitgehen mit unserem Gott - dann führt uns der Weg unter Umständen zu den Rechtlosen, deren Würde mit Füßen getreten wird.

Ja, im wahrsten Sinn des Wortes „mit Füßen getreten werden” wie jene Frau in der Nachbarschaft, die spät abends von ihrem betrunkenen, eifersüchtigen Mann auf der Straße zusammengeschlagen und getreten wird. Natürlich ist das kein alltägliches Beispiel. Es macht aber deutlich, dass Gottes Weg mit mir und mein Weg mit Gott manchmal an den Getretenen vorbeiführt. Wie werde ich mich dann verhalten? Werde ich auch dann aufmerksam mitgehen mit meinem Gott? Oder werde ich wegschauen? Werde ich mich dann rechtfertigen: „Ich will es doch nicht mit dem Nachbarn verderben”. „Ich will keine Scherereien haben”. Oder abfällig: „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich”.

Damit das Rückgrat nicht verkümmert, braucht es nicht nur regelmäßiges körperliches Training. Es braucht auch so etwa wie geistliche Fitness, ein spirituelles Training. Nämlich sich trainieren hinzuschauen und das tun, was an der Zeit ist. Nachfolgen also.

Weil Gott mit uns geht, wollen wir mutig genug sein, mit ihm Schritt zu halten. https://www.kirche-im-swr.de/?m=3196
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