Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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08JAN2020
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Ich war Anfang Dezember beim Zahnarzt, obwohl mir gar nichts weh getan hat. Ich gehe einfach einmal im Jahr hin, vorsichtshalber. Und wie immer seit Jahren hat der Zahnarzt nichts gefunden und mir zu gesunden Zähnen gratuliert.

„Gott sei Dank!“, hab ich geantwortet, „noch eine Baustelle, das hätte mir noch gefehlt. Ich hab doch schon so viele.“ Da habe ich gemerkt, dass mein Zahnarzt auch ein guter Seelsorger wäre. „So müssen Sie nicht denken“, hat er mir mit auf den Weg gegeben. “Sie müssen nicht immer an ihre Baustellen denken. Sie sollten froh sein über jede Baustelle, die sie nicht haben!“ Die wenigen Sätze gehen bis heute mit mir.

Seien Sie froh über jede Baustelle, die sie nicht haben. Er hat ja recht, denke ich seither. Es fällt mir viel leichter, zu sehen, was fehlt und was nicht gut geht. Und auch wenn es gute Nachrichten gibt, mache ich mir gleich Sorgen, dass irgendetwas schiefgehen könnte. Der Sohn ist erfolgreich im Beruf. Er arbeitet viel und offensichtlich gern. Ich denke: Na, hoffentlich übernimmt er sich nicht. Die Freundin hat auf der Alb ein Haus renoviert und will umziehen. Ich denke: Ob ihnen der Neuanfang wirklich gelingen kann?

Ich befürchte Baustellen, wo keine sind. Wenn alles gut läuft, das fällt mir gar nicht auf. Der Zahnarzt hat mich drauf gebracht.

Mir ist ein Psalm eingefallen, ein altes Gebet aus der Bibel. Früher hat man es in jedem Gottesdienst gemeinsam gebetet, immer nach dem Abendmahl. Das konnte man fast so sicher auswendig, wie das Vaterunser. „Lobe den Herrn, meine Seele“ heißt der Psalm, „Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat“ (Psalm 103, ) Das hat einen jedesmal erinnert: Vergiss das Gute nicht!

Da, wo ich jetzt lebe, beten wir das nicht im Gottesdienst. Manchmal denke ich, diese Erinnerung fehlt uns. Auch im Gottesdienst ist ja oft von dem die Rede, was nicht gut ist in der Welt. Wir beten für die Armen und die Leidenden, für die Menschen, die unterdrückt werden und keine Chance haben. Das Danken gerät in Vergessenheit, wird verschüttet unter vielen schlechten Nachrichten. So bleibt das Gefühl, dass man sich Sorgen machen muss.

Mein Zahnarzt hat mich jetzt erinnert: Es gibt ganz viele Baustellen, die ich nicht habe. Und auch in unserem Land gibt es vieles, was gut funktioniert. Gott sei Dank. Und viele Baustellen sind da, damit etwas wieder gut wird.

Nun kann ich nicht jede Woche zum Zahnarzt gehen, damit er mich wieder daran erinnert. Deshalb habe ich mir vorgenommen, jeden Abend zu beten: „Lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Zum Zahnarzt gehe ich dann im Dezember wieder.

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