Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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03JUN2019
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Im Zug sitzt mir eine Frau gegenüber. Meinen Gruß erwidert sie nicht. Was mir gleich auffällt: Ihre Hände sind wund und voller Schorf. Immer wieder, immer öfter kratzt sie sich. Nicht nur an den Händen. Am Kopf, im Gesicht, am Leib. Fast unentwegt. Überall liegen kleine Hautschuppen auf ihrer Kleidung. Mit der Zeit wird mir das sehr unangenehm. Ich würde gerne wegschauen, aber das gelingt mir nicht. Nun fängt es schon an, mich selbst zu jucken, und ich muss mich kratzen. Vielleicht kennen Sie das Gefühl. Schrecklich! Eigentlich will ich jetzt nur noch eines: Weg hier, auf einen anderen Platz, im nächsten Abteil. Gleichzeitig denke ich mir: „Was soll das denn. Stell Dich nicht so an. Bleib sitzen!“ Und dann - so sind Theologen nun mal - fällt mir ein, dass es dazu eine passende Jesusgeschichte[1] gibt. Wo Jesus genau das nicht tut: Weglaufen, weil ihm etwas Unangenehmes begegnet. Er verhält sich so normal wie möglich, zeigt keine Ablehnung, bleibt da. Damals ging es um einen Aussätzigen, vermutlich hatte er Lepra. Er ist wegen seiner Krankheit sozial geächtet, muss außerhalb der Stadt wohnen an einem abgelegenen Ort. Die Leute vermeiden es, mit ihm in Kontakt zu kommen. Er ist ein Aussätziger, ein totaler Außenseiter. Einsam, verachtet und unbeachtet lebt er sein Leben. Die anderen haben ihn zu einem Asozialen gemacht. Diesen Zustand hält Jesus für menschenunwürdig und falsch. Weswegen er es ausdrücklich erlaubt, dass der Kranke zu ihm kommt. Ihn dann berührt. Und durch die Berührung von seinem Aussatz befreit.

Lepra ist natürlich etwas anderes als die Krankheit der Frau mir gegenüber. Sie hat vielleicht eineSchuppenflechte oder eine schlimme Neurodermitis. Trotzdem: Für ihre sozialen Kontakte ist ihr Verhalten bestimmt nicht förderlich. Viele werden da lieber einen Bogen um sie machen. Wie es ja so oft geschieht, wenn etwas anders ist, befremdlich. Aussatz gibt es in unterschiedlicher Form - mal mehr, mal weniger offensichtlich. Ein Mann, der Frauenkleider trägt. Junge Frauen mit Kopftüchern. Einer, der auf der Straße lebt, weil er es will. Oder eben jemand, der an einer Krankheit leidet, sichtbar oder - weil seine Seele krank ist - unsichtbar.

Es ist mir schwer gefallen, sitzen zu bleiben. Aber ich habe es geschafft und war sogar ein bisschen stolz auf mich. Und gleichzeitig weiß ich: Der Weg ist noch weit, bis zu der Freiheit, die Jesus hatte, wenn etwas fremd war.



[1] Markus 1,40-45 parr.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28781
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