Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Das Foto der jungen Frau im Aushang eines Bio-Ladens lässt mich nicht mehr los. Hübsch ist sie, ein strahlendes Lächeln im Gesicht, der Schalk blitzt ihr aus den Augen. Dann trifft mich die Mitteilung wie ein Schock. Die junge Mutter hat sich vor wenigen Tagen einem heranrasenden Zug entgegengestellt. Zurück bleibt ein vierjähriges Kind und ein völlig verstörtes Umfeld. Kein erkennbarer Anlass, scheinbar auch kein Motiv, kein Abschiedsbrief. Die Menschen sind fassungslos und bestürzt.  

 

Eine „bi-polare Störung“? Kann sein, dass Fachleute zu dieser Diagnose kämen. Vielleicht hat diese so fröhlich wirkende junge Frau immer nur die eine, nämlich ihre strahlende Seite zur Schau gestellt, aber die finsteren Abgründe ihrer Seele sorgsam verhüllt. - Vermutungen helfen nicht weiter.  

Ich habe selbst in jungen Jahren meinen Bruder auf ähnlich rätselhafte Art und Weise verloren. Die Trauer der Angehörigen über einen Menschen, der – warum auch immer – scheinbar freiwillig aus dem Leben schied, wird noch durch bittere Fragen beschwert: Haben wir etwas übersehen oder überhört? Waren wir zu wenig wachsam, aufmerksam, einfühlsam? Konnten oder wollten wir nicht wahrnehmen, was da innerlich abging? Fragen, die sich schnell zu Vorwürfen und Schuldgefühlen hochschaukeln. Man kann sie nicht verharmlosen oder gar verdrängen. Das muss ausgehalten werden.  

Vielleicht gibt den Trauernden der Glaube ein wenig Trost: Auch der Mensch, der seinem Leben selbst ein Ende setzt, ist und bleibt Gottes Kind. „Du bist doch mein geliebter Sohn“, spricht bei der Taufe Jesu am Jordan eine Stimme aus dem Himmel (Markusevangelium 1,11).  

Diese Botschaft gilt auch uns. Denn mit Jesus, dem menschgewordenen Sohn Gottes,  sind alle gemeint. Auch jene, die keinen anderen Ausweg mehr sehen, als ihrem Leben ein Ende zu setzen. Du bist und bleibst mein geliebtes Kind. Auch Du, und vielleicht gerade Du, fällst doch im Tod nicht aus meiner Liebe heraus, sondern hinein in mein Erbarmen.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26407
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