Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Papa, schau’ mal!“ Ruft meine Tochter quer durch den Raum. „Hmm“, brumme ich, und schaue vom Handy hoch. Ganz flüchtig. Aber da ruft sie gleich wieder: „Nein, Papa! Du sollst richtig gucken!“ Kinder merken sofort, ob man wirklich hinsieht. Sie wollen einen ganz. Mit halber Aufmerksamkeit geben sie sich nicht zufrieden.… und mir selbst geht es auch so. Ich merke es doch auch sofort, wenn jemand heimlich auf die Uhr schielt und innerlich schon woanders ist. Und es macht mir was aus.

Die Bibel erzählt von einer Frau, nach der keiner geschaut hat. Niemanden hat es interessiert, wie es ihr geht. Hagar heißt diese Frau. Eine Sklavin, die schließlich flieht, mitten in die Wüste. An einer Wasserquelle macht sie erschöpft Rast.… und ausgerechnet dort begegnet ihr ein Engel Gottes, heißt es in der Bibel. Der spricht sie mit Namen an: „Hagar […], wo kommst du her und wo willst du hin?“ [Genesis/1. Mose 16,8] Zum ersten Mal sieht sie einer richtig an. Er interessiert sich für sie. Er zeigt ihr neue Schritte in die Zukunft. Und erinnert sie an das, was sie noch hat. Hagar steht wieder auf. Jetzt kann sie weitergehen. Und sie betet: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ [Genesis/1. Mose 16,13] Also: Ein Gott, der sich für Menschen interessiert. Ein Gott, der hinsieht.

Mir sagt diese Geschichte: Von so einem Gott angesehen werden, das macht einen Unterschied. Gesehen werden, voll und ganz wahrgenommen – wahrscheinlich ist das ein menschliches Grundbedürfnis. Und Gesehen-Werden hat wortwörtlich mit Ansehen zu tun. Wer gesehen wird, hat Ansehen – also Würde.

Menschen, nach denen niemand schaut – wahrscheinlich gibt es die in jeder Nachbarschaft. Und die Gründe sind ganz unterschiedlich. Manchmal sind das auch schwierige Menschen, keine Frage. Aber ich habe schon die Erfahrung gemacht: Gerade dann lohnt es sich, mal hinzusehen. Vorsichtig nachzufragen: „Wie geht es Ihnen eigentlich?“ Vielleicht blickt da jemand erst mal ungläubig zurück. Aber manchmal kann ich nur staunen, was dann passiert. Manchmal kann man dann geradezu zusehen, wie sich jemand aufrichtet. Neue Zuversicht gewinnt. Und neue Würde.

 „Papa, schau’ mal!“ Ruft meine Tochter quer durch den Raum. Ich zögere einen Moment. Dann lege ich das Handy weg. Sehe ganz genau an, was sie mir zeigt. Schaue ihr ins Gesicht. Spüre ihren Stolz, und ihre Würde.

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