SWR4 Sonntagsgedanken

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Was ist das für ein Tag, der Volkstrauertag? Über wen oder was trauern wir – an Denkmälern und Gedenktafeln, auf Friedhöfen und bei politischen Feierstunden?

Teil I

Alle, die sich heute versammeln, um der Toten von Krieg und Gewaltherrschaft zu gedenken, haben den gleichen Gedanken, scheint mir: Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein. Das hat zum ersten Mal der Ökumenische Rat der Kirchen im Jahre 1948 ausgesprochen. Damit hat sich der Volkstrauertag verändert. Politiker hatten ihn ja vor 85 Jahren erfunden, um der Soldaten zu gedenken, die im Ersten Weltkrieg gefallen waren. Die Nationalsozialisten haben später irregeleitet vom „Heldengedenktag“ gesprochen. Sie haben damit der Unmenschlichkeit den Weg bereitet.

Nach den schrecklichen Erfahrungen jener Zeit wissen wir heute: Schrecklich, absurd und sinnlos ist jeder Krieg. Er zerstört Leben, Hoffnung und Kultur in allen Völkern. Er versetzt die Menschen in tiefen Schmerz und reißt sie auseinander. Den Kriegstoten werden wir nicht gerecht, wenn wir sie „Helden“ nennen. Diese Menschen wollten doch nicht „Helden“ werden! Sie wollten leben, in Harmonie leben, in ihren Familien, Dörfern und Städten – und der Krieg für ganz andere Ziele hat ihnen alles zerstört.

Ich selbst war vor über dreißig Jahren Flüchtlingshelfer im Vietnamkrieg. Bis heute lässt mich der Schmerz der Familien nicht los, die durch den Krieg zerrissen und um jede Hoffnung gebracht wurden: die Mütter, die um ihre getöteten Kinder weinten, der Vater, der – schwer verwundet – weder aufs Feld konnte noch eine Arbeit fand, die unzähligen Kinder, die als Kriegswaisen aufwuchsen.

Weil wir die Verzweiflung der Menschen auf allen Seiten der Kriegsfronten vor Augen haben, trauern wir längst nicht mehr nur für ein Volk. Der Volkstrauertag beklagt die Kriegstoten aller Völker. „Versöhnung über den Gräbern“ heißt heute das Leitwort. Ja, vom Volkstrauertag ist eine große Bewegung ausgegangen – und er hat sich gerade im Zuge der Friedensbewegung der achtziger Jahre gewandelt.

Miteinander, nicht mehr gegeneinander stehen Angehörige unterschiedlicher Nationen an den Gräbern. Sie beklagen gemeinsam die Menschen, die auf allen Seiten der Kriegsfronten sterben mussten. Sie weinen wie Jesus von Nazareth, der einmal seiner Stadt Jerusalem inständig und als Mahnung zurief: Wenn doch auch du erkennen würdest, was deinem Frieden dient! Es ist ein echter Fortschritt, dass der Volkstrauertag herausgenommen wurde aus dem Freund-Feind-Denken, dass er sich entwickelt hat zu einem Tag der Versöhnung. Wie gut, dass es auch diesen Fortschritt gibt – die wachsende Bereitschaft auf unserem Kontinent zum friedlichen Zusammenleben der Völker.

Wir wissen aber auch: Kriege fallen nicht vom Himmel. Sie sind kein unabwendbares Naturereignis. Sondern – ehe sie geführt werden, haben sie in den Köpfen und Herzen der Menschen begonnen. Wie gut wäre es, wenn dieser Volkstrauertag die Bereitschaft zur Versöhnung auch in unseren Herzen stärken würde!

Teil II

Macht der Volkstrauertag mich selbst friedlicher und versöhnlicher? Jedes Kind weiß, oder sollte es wissen: Frieden fängt zuhause an. Und nicht nur dort, sondern bei mir und in mir. Bin ich bereit, den Weltfrieden in mir selbst vorzubereiten? Kann ich mich aussöhnen mit dem eigenen Lebensweg, aussöhnen etwa auch mit meiner Kindheitsgeschichte? Wer als Kind Gewalt und Demütigung erlebt hat, wird voller Wut sein gegen die Menschen, die ihm das angetan haben. Der wird immer meinen, er müsse sich genauso mit Gewalt wehren. Wie soll da Frieden werden?

Zur Versöhnung mit anderen gehört in der Tat, dass ich mich mit meiner Lebensgeschichte aussöhne. Dann fällt der Frieden mit den anderen unendlich leichter. Wenn ich ehrlich bin, dann ist ja auch mein Herz beschwert durch tausend andere Dinge: Besitzansprüche gegen andere, Abgrenzung von anderen, Hochmut über andere, Vorurteile gegenüber anderen. Seit Kain und Abel kennen wir diese Geschichte, die Geschichte von Neid und Missgunst. Und dann die abweisende Frage: Soll ich meines Bruders Hüter sein?

Also, über feindliche Gefühle muss gesprochen werden, denn wir können auf Dauer nicht gegeneinander, sondern nur gemeinsam leben. Wer mit dem anderen ins Gespräch kommt, wird sich mit ihm oder mit ihr verändern – oder gar offen versöhnen. Nicht selten spüre ich in der direkten Begegnung: Meine Feindbilder und meine Vorurteile haben nicht gehalten, was sie im Zorn versprachen. Ja, ich entdecke im Gespräch: Der andere ist wie ich – empfindlich, zerbrechlich und voller Erwartung, dass er angenommen wird, wie er oder sie ist. Und dass ich mich mit ihr oder ihm aussöhne – weil wir beide längst wissen: Auf Feindschaft ruht kein Segen.

Jesus sagt einmal: Überwindet das Böse mit Gutem. Und er fragt uns: Wenn ihr liebt, die euch lieben, was tut ihr Besonderes? Von uns wird mehr erwartet: Liebt eure Feinde. Segnet, die euch fluchen. Tut wohl denen, die euch hassen. Bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen. Ich spüre längst: Das alles ist eine Zumutung. Wie soll ich denn denjenigen lieben, der mir böse will? Wie soll ich den ins Gebet einschließen, der mich beleidigt hat? Ja, Jesus mutet mir viel zu, er mutet mir zu, dass ich an mir arbeite. Täglich neu muss ich erkennen, dass Versöhnung nicht billig zu haben ist.

Ich überlege oft, ob das denn vernünftig ist und ob Menschen das überhaupt einlösen können. Aber dann denke ich an meinen in jungen Jahren im Krieg schwerbeschädigten Vater, der mit seiner Kriegserfahrung nie fertig wurde. Und ich werde die Erfahrungen aus Vietnam nicht los. Ich komme deshalb zu dem vorläufigen Schluss: In allen Konflikten muss Frieden erneut gewagt werden.

Denn Krieg und Hass dürfen nach Gottes Willen nicht sein. Wo also jeweils der erste Schritt gewagt wird, von mir oder von Ihnen, manchmal zögerlich und zaghaft, in jedem Fall ein erster Schritt zum Frieden, da wird Versöhnung nicht erst über den Gräbern lebendig. https://www.kirche-im-swr.de/?m=2583
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