SWR Kultur Wort zum Tag

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Die Zeitung steckt im Briefkasten. Morgen für Morgen. Und wenn ich sie aufschlage, erwarte ich Nachrichten aus aller Welt. Verlässliche Nachrichten, wahre Nachrichten. Wenn ich aber einen Roman aufschlage, ist das anders. Dann erwarte ich eine Geschich-te, die mich in eine andere Welt entführt. Auch diese Geschichte ist wahr. Aber sie ist anders wahr als die Wahrheit der Nachricht.
Ganz ähnlich verhält es sich mit der Bibel. Sie enthält keine wissenschaftlichen Hypothe-sen und keine Zeitungsnachrichten. Sie ist ein Text voller Sehnsucht, voller Erfahrungen mit Gott und den Menschen.
Dieser Unterschied zeigt sich in der Schöpfungsgeschichte deutlich. Die Bibelwissen-schaft arbeitete überzeugend heraus, dass die Schöpfungsgeschichten am Anfang der Bibel keine Berichte sind, sondern eher ein lyrischer Text, ein großes Schöpfungsgedicht. Ein Gedicht, das zu Recht Weltliteratur geworden ist. Und das heißt: Es ist ganz offen-sichtlich komponiert, es ist auf raffinierte Weise strukturiert.
Das Schöpfungsgedicht entsteht im so genannten babylonischen Exil. Im Laufe eines langen Krieges deportieren die Babylonier die Oberschicht des jüdischen Volkes. Das Leben in Babylon ist kein Zuckerschlecken. Die Deportation nagt schwer am Selbstbe-wusstsein der Juden.
Das Schöpfungsgedicht greift diese Situation auf. Es setzt mit dunkler Finsternis ein, mit der Erfahrung von Wüste und Tod. Ihnen setzt das Schöpfungslied die erste und wich-tigste Schöpfungstat Gottes entgegen: Das Licht, das insgesamt für Leben steht.
Mehr noch: Die Schöpfungserzählung, diese große Ouvertüre der Bibel, wird in einem durchkomponierten, gegliederten Aufbau erzählt. Dieser zeigt, welche Ordnung Gott der Welt gegeben hat. Eine Ordnung, die gegen das Chaos von Krieg, Exil und Ver-schleppung gesetzt wird.
Diese Ordnung zeigt sich etwa in der Abfolge der Tage. Aber auch darin, dass wichtige Formeln wiederholt werden. Etwa: „Gott sprach ...“ oder „Gott sah, wie gut es war.“ Die Welt erscheint in dem Schöpfungslied als ein geordnetes Lebenshaus: Alles Lebendige findet darin einen Platz, alles Chaos wird zurückgedrängt.
Wer die Texte der Bibel also mit modernen Aussagen zur Entstehung des Kosmos ver-gleicht, wird ihnen nicht gerecht. Denn die Fragen und Aussageabsichten der biblischen Texte liegen auf einer anderen Sinnebene als naturwissenschaftliche Modelle, die erklä-ren, wie der Kosmos entstanden ist. Wer die Schöpfungsgeschichte naturwissenschaft-lich liest, verpasst einen großartigen Text der Weltliteratur. Einen Text, der einen die Welt mit anderen Augen betrachten hilft, als Welt, die gut war.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=2514
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