SWR4 Sonntagsgedanken

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Eine alte Dame steht jeden Morgen angstfrei auf

„Nein, Angst habe ich eigentlich nicht.“ Das hat mir eine alte Dame gesagt. Sie wohnt allein. Ihr Mann ist schon lange tot. Die Kinder wohnen weit weg. Sie hat gerade Geburtstag gefeiert. 85 Jahre ist sie alt geworden. Sie weiß, dass sie keine 30 mehr ist. Aber sie freut sich wie früher auf jeden neuen Tag. Wie macht sie das?

Wir sitzen in einer kleinen Ess-Ecke. Vor mir dampft eine Tasse Kaffee. Sie trinkt nichts, sie erzählt. „Ich nehme jeden Tag, wie er kommt.“, sagt sie. Und dann zählt sie auf, was sie an einem Tag so alles macht.

Jeden Morgen duscht sie fünf Minuten eiskalt. Das mache sie munter. Dann fährt sie mit dem Auto in die Stadt. „Auch jetzt im Winter“, sagt sie. „Die Straßen sind zwar glatt – man muss aufpassen. Aber ich bleib nicht gern den ganzen Tag zu Hause!“ Schon vor Jahren ist ihr Mann gestorben. Das war eine schwere Zeit. Aber aufgeben komme nicht in Frage.

„Wovor soll ich schon Angst haben?“, fragt sie mich. Ich nippe an meinem Kaffee und warte auf die Antwort. Ich bin mir sicher, diese Frau weiß die Antwort selbst am besten. „Wissen Sie, jeden Abend bete ich und sage Gott danke für den Tag. Für das, was ich erlebt habe. Für das, was morgen noch auf mich wartet.“ „Deshalb geht es mir gut.“, sagt sie noch.

Die alte Dame steht morgens auf und freut sich auf den Tag. Sie vertraut darauf, dass er gut wird. Beneidenswert, oder? Ich dagegen steh manchmal morgens auf und wälze gleich die Sorgen für den ganzen Tag in meinem Kopf. Das sind die Tage, an denen ich sage: „Hoffentlich ist bald morgen!“ Die Dame beschreibt ihre Tage genau anders herum: „Schön, dass heute ist.“

Sie ist ein Mensch, der keine Angst hat. Sie sagt, ihr Glaube hilft ihr. Weil sie weiß: Ich bekomme genau die Kraft von Gott, die ich für den Tag brauche.

In der Bibel gibt es eine Geschichte, in der ein Vater für sein schwer krankes Kind bittet. Die Bekannten des Vaters sagen zu ihm: Gib auf! Es ist zu spät! Aber Jesus sagt dem Vater: Fürchte Dich nicht, hab Vertrauen! Zu dem Mädchen sagt er: Steh auf. Und das Mädchen steht tatsächlich auf.

Ich mag diese Geschichte. Mir gefällt der Unterschied zwischen ‚Gib auf!‘ und ‚Steh auf!‘ Der passt zu der alten Dame, die ich zum Geburtstag besucht habe. Sie lebt, als würde Jesus zu ihr sagen: „Steh auf!“.

Sie glaubt, dass Gott ihr die Kraft für den Tag gibt. Deshalb kann sie jeden Tag aufstehen.

Aufstehen beginnt mit Vertrauen

Nicht jeder Tag ist gleich gut. Das ist keine Frage. Manchmal fällt man, auch wenn man morgens voller Energie aufgestanden ist. Die alte Dame weiß das. Als ihr Mann gestorben ist, ist sie gefallen. Als die Kinder weggezogen sind, ist sie gefallen. Einmal ist sie auch im Wortsinn gefallen: Nach einem Sturz hatte sie sich den Arm gebrochen.

Es ist nie schön, wenn man fällt. Aber es gehört wohl zum Leben dazu. Deshalb hat Jesus zu einem schwer kranken Mädchen gesagt: „Steh auf!“ erzählt die Bibel. Und tatsächlich, es gelingt. Das Mädchen kann wieder aufstehen.

Ich finde: Wer sich an dieser Geschichte orientiert, braucht nicht am Boden liegen zu bleiben. Stattdessen kann jeder Sturz einen weiterbringen. Zu dem Vater des Mädchens hatte Jesus gesagt: „Fürchte Dich nicht, hab Vertrauen!“ Wer sich nicht fürchtet, kann aufstehen. Der innere Mensch kann jeden Morgen erwachen und auf einen guten Tag warten. Auch wenn es von außen betrachtet ganz anders aussieht.

Die alte Dame hat mir von der Zeit erzählt, als sie plötzlich alleine war. Die Kinder waren aus dem Haus. Ihr Mann ist krank geworden. Sie hat ihn zu Hause gepflegt. Aber schließlich ist er gestorben. Da war sie allein.

Sie sagt: „Das war ein Schlag.“ Lange hat sie sich wie gelähmt gefühlt. Die beiden waren immer zusammen. Plötzlich ging das nicht mehr. In dieser Zeit war sie nicht vor der Haustür. Sie konnte nicht. Im Grunde hatte sie damals aufgegeben.

Wenn sie zurückblickt, weiß sie gar nicht genau, was sie am Leben gehalten hat. Heute sagt sie: „Ich war noch da. Und eines Tages habe ich gedacht: Meine Zeit ist noch nicht gekommen!“

Sie hat innerlich erlebt, wie das ‚steh auf!‘ stärker ist als das ‚gib auf!‘ Diese Erfahrung hat sie gemacht. Dafür ist sie dankbar. Mit dieser Erfahrung wacht sie morgens auf. Mit dieser Haltung beginnt sie den Tag.

 „Angst habe ich eigentlich nicht“, so hatte die alte Dame beim Kaffeebesuch es gesagt. Ich finde in diesem Satz steckt alles drin. Das Vertrauen darauf, die nötige Kraft für den Tag zu haben. Das Wissen, dass natürlich immer auch etwas Schlimmes passieren kann. Und die Zuversicht, dass der Tag trotz allem gut wird.

Jesus würde das Glauben nennen. Gottvertrauen. Das hilft gegen die Angst. So kann man aufstehen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete und angstfreie Woche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23735
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