Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Der Autor Andreas Steinhöfel beschreibt in mehreren Jugendbüchern eine ungewöhnliche Freundschaft. Rico und Oskar sind zwei Jungs, die unterschiedlicher gar nicht sein könnten. Oskar ist ein richtiger Durchblicker, der alles schnell und leicht begreift und seine Schlüsse zieht. Aber er ist ängstlich, schließlich weiß er ja, was alles passieren kann. Deshalb geht er sicherheitshalber mal lieber mit einem Sturzhelm durchs Leben. Weil er so viel und so schnell begreift, gilt er als hochbegabt und bezeichnet sich auch selbst so. Rico ist drei Jahre älter und ganz anders. Er ist kreativ und originell, aber er tut sich schwer, so zu denken und sich so zu konzentrieren wie die anderen. In seinem Kopf ist zu Vieles gleichzeitig und deshalb weiß er oft nicht, was wohin gehört. Wenn er sich mit dem hochbegabten Oskar vergleicht, findet Rico, er sei dann eben ‚tiefbegabt‘.[1]

‚Tiefbegabt‘, dieses neue Wort hat mich begeistert. Ich finde, das hätte man schon lange erfinden sollen. Denn es sagt ja nicht ‚weniger begabt‘. Es sagt: anders begabt, in eine andere Richtung. Nicht in die Höhe, sondern in die Tiefe. Und da, in der Tiefe, da finden sich ganz eigene Talente, andere als in der Höhe. Philipp zum Beispiel kann Eindrücke intensiver erleben als andere Kinder, und er braucht Unterstützung, alles zu verarbeiten. Jana hat einen ganz besonderen Draht zu Tieren, selbst die gefürchtete Bulldogge der Nachbarn wird in ihrer Nähe zart und zahm. Und Anselm malt sich oft aus, wo Gott wohnt und wie die Welt wohl aussieht, in der seine verstorbene Oma jetzt lebt.

Heute beginnt das neue Schuljahr. Und alle sitzen sie jetzt wieder in der Klasse, die Hochbegabten und die Tiefbegabten, die Unauffälligen und die Lebhaften. Und allen soll die Schule so gut wie möglich gerecht werden. Keine leichte Aufgabe für die Lehrerinnen und Lehrer! Denn jedes Kind ist einzigartig in seinen Begabungen und Möglichkeiten. Jedes Kind hat ein Recht darauf, so erkannt und akzeptiert und geliebt zu werden, wie es ist. Jedes Kind ist so viel mehr als seine Erfolge oder Misserfolge in der Schule. So viel mehr als seine Hoch- oder Tief- oder Normalbegabung. Jedes Kind ist Gottes Kind, unendlich kostbar und liebenswert. Vergessen wir das nicht, auch wenn das Schuljahr bald wieder Alltag sein wird – und die Kinder Gottes manchmal auch ganz schön anstrengend sind.



[1]Rico, Oskar und die Tieferschatten, 2008 (Deutscher Jugendliteraturpreis in der Kategorie Kinderbuch); Rico, Oskar und das Herzgebreche, 2009; Rico, Oskar und der Diebstahlstein, 2011

 

 

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