SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Woher holen wir den Atem? Für die meisten Menschen ist ihr Atmen so selbstverständlich, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, diese Frage zu stellen. Nicht so Navid Kermani.

Der Orientalist und Schriftsteller, der im letzten Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, bewegt sich auf faszinierende Weise immer wieder zwischen den Welten der östlichen und westlichen Kulturen und Religionen. In seinem Buch „Zwischen Koran und Kafka“ deckt er Motive in der Weltliteratur auf, die zeigen, wie sehr sich religiöse Traditionen des Ostens und des Westens wechselseitig inspiriert haben. Ein Kapitel widmet er Johann Wolfgang von Goethe und überschreibt es „Gott-Atmen“.

Allen Glaubens- und Gottesvorstellungen voraus ist für Kermani der Atem „die grundlegende religiöse Erfahrung, die wir bestreiten oder anerkennen können“. Und er zitiert Goethe aus dem „West-östlichen Divan“:

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:

Die Luft einziehn, sich ihrer entladen.

Jenes bedrängt, dieses erfrischt;

So wunderbar ist das Leben gemischt.

Du danke Gott, wenn er dich preßt,

Und dank‘ ihm, wenn er dich wieder entläßt.

Auch wenn der Atem rein physiologisch erklärt werden kann, vermag doch – so Kermani – „nichts so sehr wie der Atem selbst das nüchternste Gemüt erschüttern.“ Mindestens der erste Atemzug bei der Geburt eines Kindes und beim Sterben eines Menschen der letzte. „Ich bin mir sicher“, sagt er, „dass Gott für den Menschen entstanden ist in ebensolchen Situationen wie der Geburt des eigenen Kindes, in denen das Bedürfnis einen überwältigt, seinen Dank auszusprechen. Denn zu danken bedeutet: jemandem oder etwas zu danken.“

In diesem Zusammenhang zitiert Kermani Goethe mit einem Absatz aus Wilhelm Meisters Lehrjahren:

„Wie glücklich war ich, dass tausend kleine Vorgänge zusammen, so gewiß als das Atemholen Zeichen meines Lebens ist, mir bewiesen, dass ich nicht ohne Gott auf der Welt sei! Er war mir nahe, ich war vor ihm. Das ist’s, was ich mit geflissentlicher Vermeidung theologischer Systemsprache mit größter Wahrheit sagen kann.“

Ohne „theologische Systemsprache“: Goethe traut seiner eigenen Sprache, um möglichst nahe an dem zu sein, wie er die Nähe Gotte erfährt. Damit lobt er Gott – wie der Beter des Psalms „Alles was atmet, lobe den Herrn.“ (Ps 150)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22031
weiterlesen...