Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ein halber Mantel ist eine ganz schön blöde Sache. Was soll einer damit anfangen? Ein Mantel mit einem Ärmel, bloß die Hälfte von Brust und Rücken bedeckt. Und weil man ihn nicht zumachen kann, frieren dann auf einmal zwei statt einer. So einfach ist das. Mathematisch und – sozusagen – kleidungstechnisch. Es ist also besser, wenn der Mantel ganz bleibt. Ganz kann er verschenkt werden, oder eben nicht, und wenigstens einen wärmen.

In der Religion kommt man aber mit dem Maßband nicht weit. Es geht nicht darum, dass alles logisch stimmt oder der größtmögliche Nutzen erreicht wird. Nicht an erster Stelle jedenfalls. Es geht vielmehr um Zeichen, um etwas, das man nicht übersehen kann, das einem im Gedächtnis bleibt. Da geschieht etwas. Und plötzlich fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Das könnte mit Gott zu tun haben. Das ist religiös. Es wühlt mich im Inneren auf und hinterlässt ein ungewöhnliches Gefühl. Meine religiösen Erfahrungen sind immer dann besonders stark, wenn ich mir an den Kopf greife und denke: „Mensch, Thomas, das ist es. Genau so muss das sein. Wie toll, dass der oder die es so gemacht hat!“ Ich bin dann überwältigt und ein bisschen beschämt, dass ich nicht selber drauf gekommen bin.

Und plötzlich ist das mit dem halbierten Mantel gar nicht mehr blöd. Weil es auf die Geste ankommt. Und die hat das Zeug zu einer religiösen Spitzenerfahrung. Wer seinen Mantel zerreißt und teilt, der denkt über sich selbst hinaus. Der vergisst sich selbst. Wie er aussieht, wie viel Schutz er braucht, ist dann nicht das Wichtigste. Sondern teilen. Ich habe und der andere nicht. Ich will aber, dass er auch was hat, nein, dass er genau so viel hat wie ich. Auf den zweiten Blick bekommt der Mantel in zwei Teilen dann sogar noch eine weitere Dimension. Er zeigt an, dass zwei auf einmal zusammen gehören, die bisher in ihrem Leben noch nie etwas miteinander zu tun hatten. Eine Art Partnerlook.

Solche Zeichen sind religiös, weil sie uns berühren. Sie sind ganz einfach. Alltäglich. Jeder könnte sie tun. Sie erfordern keine besonderen Fähigkeiten oder Kräfte.

Vor 1700 Jahren hat einer seinen Mantel geteilt. Der heilige Martin. Er ist berühmt dafür geworden. Heute ist der Tag, wo man an ihn denkt.

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