Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Hat sich Jesus als Arzt verstanden?“ – das hatte ich den Theologen Eugen Biser (1918-2014) gefragt. Seine spontane Antwort war: „Ganz gewiss, denn das war seine zentrale Sendung.“ Auf den Titel Arzt hatte Jesus offensichtlich wertgelegt. Doch der ist später vergessen, wenn nicht unterschlagen worden. Ebenso ist aus dem Bewusstsein verschwunden, wie Jesus in den ersten Jahrhunderten der Christenheit angerufen wurde: „Hilf, Jesus Christus, du bist unser einziger Arzt!“ Auf den Titel Arzt weisen im übrigen Jesu Gegner hin, wenn sie lästern: „Arzt, heile dich selbst.“ (Lukas 4,23) 

Das griechische Wort für heilen heißt: „therapeuein“. Doch heilen ist bereits ein abgeleitetes Wort. Die ursprüngliche Bedeutung von  Therapie ist: „anbeten und nahe sein“. Und genau das hat Jesus mit Leben gefüllt: Gott anbeten und so seine heilende Nähe spüren. In den Evangelien des Neuen Testaments zieht sich das als roter Faden durch: Jesus verkündet die rettende Nähe Gottes und er heilt die Menschen von ihren seelischen, geistigen und körperlichen Gebrechen. Nicht dass diese Gott-Verbundenheit alle Krankheit wegnimmt. Aber wir sollen ihr nicht mehr heil-los ausgeliefert sein, keinem blinden Schicksal mehr verfallen sein. 

Die Christen berufen sich auf Jesus. Also müsste auch das Christentum vor allem eine therapeutische Religion sein. Wenn die Menschen etwas von der Kirche erwarten – dann gewiss keine dogmatischen oder moralischen Anweisungen. Sie erwarten jedoch von der Kirche menschliche Nähe im Geiste Jesu: Verständnis für ihre Probleme und Nöte, Verständnis für ihre Sorgen und Ängste. Und dass sie den Menschen beisteht bei ihrer Suche nach Sinn, gerade auch in schwierigen Lebenslagen. 

Der moderne Mensch ist nicht der unabhängige und zügellose Zeitgenosse, den es auf den rechten Weg zu bringen gilt – was man auch immer darunter versteht. Weit eher zweifeln und leiden viele Menschen an sich selbst. Ihnen beizustehen – das ist ein großer Liebesdienst. 

Das Christentum als therapeutische Religion verstehen – darin ist Papst Franziskus Vorbild. Er will eine Kirche, die nachsichtig ist und nicht richtet. Bei ihm gilt umgekehrt als seither üblich: zuerst lieben, dann lehren. Für ihn stehen der konkrete Mensch und sein Schicksal stets an erster Stelle. Und eines seiner wichtigsten Anliegen, dass seine Kirche wieder mehr Verständnis für menschliches Scheitern zeigt. Damit ist Papst Franziskus genau in der Spur, die Jesus hinterlassen hat. Bleibt zu hoffen, dass die ganze Kirche davon erfüllt wird.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20458
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