Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Ich mag es sehr, wenn Niels in unseren Gottesdiensten ist. Niels [seinen Namen habe ich geändert] ist ein jugendlicher Autist. Er bringt unglaublich viel Energie mit. Und meistens merkt man das auch. Manchmal sitzt oder liegt er einfach nur auf dem Sofa, das hinten bei uns im Gottesdienstraum steht und hört über Kopfhörer Musik.
Aber oft steht er auch auf, läuft herum, lacht, bleibt ruckartig stehen, ändert die Richtung. Geht schnurstracks auf jemanden zu. Ändert dann wieder die Richtung.
Das war am Anfang für mich ziemlich gewöhnungsbedürftig. Wir haben auch in meiner Kirche im Gottesdienst feste Abläufe. Und mitten in die hinein kam nun Niels. Mich hat das immer wieder irritiert. Ich musste mich ja auch daran gewöhnen, dass manche sogar dann, wenn ich predige, mehr auf Niels achten als auf mich.
Seine Begleiterin hat ihn im Blick. Wenn es zu unruhig wird, dirigiert sie ihn sachte in den Nachbarraum, von dem aus sie den Gottesdienst sehen und hören kann.
Immer wieder gibt es ganz besondere Momente durch Niels. Wenn er auf die Musik reagiert zum Beispiel. Mich steckt er an, wenn er sich freut. Und es gibt auch immer mal etwas zu lachen, denn er singt auch an Ostern „Oh Tannenbaum“. Unabhängig davon, was die anderen gerade tun.
Grundsätzlich gilt: Wir wollen, dass Niels wie alle anderen einen Platz bei uns hat. Im Gottesdienst. Wir wollen, dass wir gemeinsam Gottesdienst feiern können.
Und das hat bedeutet, dass der Gottesdienst sich verändert hat.
Nicht, weil wir ihn jetzt „behindertengerecht“ oder neudeutsch ausgedrückt „inklusiv“ gestalten würden. Unsere Abläufe und die Sprache sind zum Beispiel immer noch viel zu kompliziert für Menschen, die vom Verstand her eingeschränkt sind.
Auch unser Haus ist nicht barrierefrei. Man kann zwar sonntags mit dem Rollstuhl gut zum Gottesdienst kommen, aber es geht noch nicht ganz ohne Hilfe.
Der Gottesdienst hat sich verändert, weil ein neuer, immer wieder überraschender Teilnehmer dabei ist. Das hat den Gottesdienst verändert. Er hat den Gottesdienst verändert.
Was vielleicht für den Anfang viel wichtiger war als behindertengerechte Abläufe und Räumlichkeiten: Die Menschen sind barrierefrei. Auch wenn wir uns umstellen mussten, seit Niels zu uns in den Gottesdienst kommt: Niemand kam je auf die Idee, dass das nicht in Ordnung sei. Und: Niemand kam je auf die Idee, dass wir jetzt alles umstellen müssten.
Barrierefreie Herzen braucht es. Die Veränderungen kommen dann von allein.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19810
weiterlesen...