SWR2 Wort zum Tag

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Wo ist dein Bruder Abel? So fragt am Beginn der Bibel Gott den Kain, der seinen Bruder ermordet hat. Eine Frage, die Gott gerade tausendfach in Europa wiederholen muß. Wo ist dein Bruder, wo ist deine Schwester? Wo sind sie, deren Tod du nicht verhindert hast? Ich möchte mir die Ohren zuhalten vor dieser Frage, aber ich kann und darf es nicht. Auch wenn ich mich ohnmächtig fühle, auch wenn ich die große Schuld in der Politik sehe, nicht erst seit heute, bei Schleuserbanden, bei denen, die wirtschaftliche Macht haben.

Trotzdem muss ich die Frage annehmen, ohne Wenn und Aber: Wo ist dein Bruder Abel? Und ich darf nicht so reagieren wie Kain, der geantwortet hat: Bin ich denn der Hüter meines Bruders?

Gleichzeitig erlaube ich mir zu fragen: Gott, wo bist du? Warum hast du uns Menschen so erschaffen? Warum gibst du uns nicht mehr Willen, mehr Ideen, mehr Kraft, um gerechter zusammenzuleben? Warum schaffen wir es nicht, daß jedes Mädchen und jeder Junge, jeder Mann, jede Frau, jeder alte Mensch eine Heimat hat und genug zu essen?

Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Ich kann es nicht auflösen, dieses Ineinander von Gottes Verantwortung und unserer menschlichen Verantwortung. Aber mir hilft ein Gedicht von Hilde Domin mit dem Titel „Abel steh auf.“ Darin schreibt sie: 

Abel steh auf
es muss neu gespielt werden
täglich muss es neu gespielt werden
täglich muss die Antwort noch vor uns sein
die Antwort muss ja sein können
wenn du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
diese einzig wichtige Antwort
sich je verändern
….steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann
Ich bin dein Hüter
Bruder
wie sollte ich nicht dein Hüter sein
Täglich steh auf
damit wir es vor uns haben
dies Ja ich bin hier
ich
dein Bruder….[1]

Mir helfen diese Worte der Dichterin Hilde Domin. Ich weiß, Abels Söhne und Töchter, die ertrunken sind, werden nicht aufstehen, nicht in unser irdisches Leben hinein. Aber unzählige Kinder Abels warten darauf, dass andere sagen: Ja, ich bin die Hüterin meines Bruders, ich bin der Hüter meiner Schwester.

 

[1] Aus: Hilde Domin, Abel steh auf. In: Abel steh auf. Gedichte, Prosa, Theorie. Reclam 1979, S.49

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19625
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