SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Vor zehn Tagen war ich in Berlin und hab am Brandenburger Tor gestanden, da, wo damals die Mauer gestanden hat.
Bei mildem Herbstwetter herrschte ein reges Treiben.
Einige junge Chinesinnen fielen mir auf. Sie fotografierten fröhlich kichernd einen russischen Soldaten. Der hatte sich aber nur so verkleidet. Der war gar nicht echt.
Als Jugendliche habe ich vor dem Brandenburger Tor noch echte russische Soldaten gesehen, schwerbewaffnete Grenzer, die hinter der Mauer patroullierten. Eine Mauer, hinter der Menschen eingesperrt waren.
Und dann, jene Abendstunden, jene Nacht vor 25 Jahren – diese Bilder von verdutzen Polizisten und der nicht minder verwunderten Menschen an den Grenzübergängen. Junge Männer, die einfach auf die Mauer draufklettern. Ich kann mich noch gut an die Fernsehbilder erinnern. Wahnsinn.
Mir ist dabei auf einmal David eingefallen. Der berühmteste König Israels, der ein Schafhirte vom Lande gewesen ist. Und irgendwann König wurde. Die Bibel erzählt seine Geschichte.
„Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ So hat er seine Erfahrungen zusammengefasst. Davon war David überzeugt. David war davon überzeugt, dass mit Gottes Hilfe Dinge möglich werden, die niemand für möglich hält.  Er hatte das selbst so erfahren. Einmal hat er sogar sich selbst überwunden, seine Angst, seine Wut.
Einmal, erzählt die Bibel, hätte David die Gelegenheit gehabt, seinen Hauptwidersacher gewaltsam aus dem Weg zu räumen. Aber er tuts nicht.
Ich finde, das ist wirklich ein Wunder. Dass einer friedlich bleibt, defensiv, sich nicht provozieren lässt, sich nicht einschüchtern lässt von einem überlegenen Gegner. Sondern darauf hofft, dass man mit Gott gewinnen kann – und zwar mit friedlichen Mitteln.
David damals hat darauf gehofft: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“
Und es ist gut gegangen!
Mit dieser Hoffnung haben viele Menschen vor 25 Jahren in der DDR gebetet:
Gott, hilf uns, die Mauern zu überwinden!
Ja, ich glaube, dass es auch die Gebete gewesen sind, die damals die Mauer überwunden haben. Bestimmt sind es auch diese Gebete gewesen, die den Leuten den Mut gegeben haben, Montag für Montag loszuziehen, ohne zu wissen, ob sie am Abend wieder nach Hause kommen oder ob man sie verhaften würde.
Und dann habe es die Leute tatsächlich erlebt: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ Sie frei passieren, einfach hindurchlaufen oder hinüberklettern. Das war ein Abend damals! Als ich das damals gesehen habe, war ich mindestens genauso erstaunt wie Horst Sindermann von der SED-Führung, der nur noch sagen konnte: „Wir haben mit allem gerechnet. Nur nicht mit Kerzen und Gebeten.“

Dieses bunte Treiben, diesen internationalen Flair. Wo früher die Mauer nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa getrennt hat, merke ich, dass doch ziemlich viel zusammen gewachsen ist. Das hat mich richtig dankbar gemacht.
Aber ich muss auch daran denken, dass heute wieder Mauern hochgezogen werden, und zwar an den europäischen Außengrenzen. Beklemmend, diese Bilder, wenn nachts das Scheinwerferlicht der Grenzpolizei auf die jungen Männer fällt, die versuchen, über den Grenzzaun zu klettern. Sicher haben sie viel dafür bezahlt und ein hohes Risiko auf sich genommen, damit sie von ihrer afrikanischen oder arabischen Heimat ins sichere Europa kommen können.
Aber was erwartet sie hier? Europa, eine uneinnehmbare Festung? Oder eine offene Gesellschaft, die sich für die Menschen stark macht, die sich hierher vor Terror und Verfolgung und auch Armut flüchten?
Ich hoffe, dass es wirklich so ist, wie es die Bibel ausdrückt, ich hoffe, dass auch ich mit meinem Gott über Mauern springen kann. Und zwar über die inneren Mauern, die Blockaden und Bedenken, die ich manchmal habe. Ich weiß ja auch nicht, wie das alles weiter gehen soll. Aber resignieren möchte ich nicht! Sondern mit anderen zusammen überlegen: Was können wir tun, damit es den Leuten, die sich zu uns flüchten, gut geht? Gibt es z.B. in unseren Kirchengemeinden freie Wohnungen? Oder können wir irgendwie finanziell dazu beitragen, dass eine Familie ihre Wohnung bezahlen kann? Vielleicht brauchen die Kinder aus der Sammelunterkunft ja Unterstützung bei den Hausaufgaben. Oder jemanden, der hilft, all die vielen Formulare zu übersetzen.
„Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ Oder zumindest über meinen Schatten. Das hoffe ich.  Mit meinem Gott kann ich mir selber einen Ruck geben, einen Schritt zurücktreten und schauen, was machbar ist.
Ein Kerzchen und ein Gebet, die sind bestimmt machbar. Im stillen Kämmerlein daheim oder mit anderen zusammen. Überall kommen dieser Tage ja Menschen zusammen, um zu beten, Friedensgebete und Mahnwachen gibt es auch in unserer Stadt.
Wer weiß, vielleicht wird man in 25 Jahren dann auch sagen: Es waren auch diese Gebete, die Mauern überwunden und Menschen zusammen geführt haben. Ich vertraue jedenfalls darauf, dass jedes dieser Gebete bei Gott ankommt und er hilft, dass ich mutig und zuversichtlich werde.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag. Kommen Sie behütet durch die neue Woche!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18634
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