SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Früher ist sie sonntags regelmäßig in die Kirche gegangen. Und montags zum Kirchenchor. Das schafft sie aber seit einigen Monaten schon nicht mehr. Da bleibt sie lieber zu Hause, bei ihrem Mann, dem geht’s gar nicht gut, und wer weiß, wie lange sie noch zusammen bleiben können.
„Das verstehen Sie doch, Frau Pfarrerin?“ hat sie mal  zu mir gesagt, als wir uns getroffen haben.
Als ob sie sich entschuldigen wollte bei mir, so kam mir das vor. Dabei ist es doch großartig, was diese Frau leistet. Für sie ist es selbstverständlich, das gehört sich doch so.
Für mich ist es – Liebe.
Und darauf kommt es an. So hat das zumindest Jesus gesehen.
Eines Tages, so erzählt es die Bibel, wollte jemand von ihm wissen, was für ihn denn das höchste und wichtigste Gebot ist. Da hat Jesus geantwortet: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.“
Für Jesus scheinen also in diesem Satz alle anderen Gebote und Regeln und Vorschriften zusammen gefasst zu sein. Das gefällt mir. Kein kompliziertes Regelwerk, das sich außer den Spezialisten sowieso kein Mensch merken kann. Kein Gängelung, wo mir mit erhobenem Zeigefinger genau gesagt wird, was ich zu tun und zu lassen habe. Kein „Du musst und du darfst nicht.“
Sondern: Liebe!
Gott, deinen Nächsten! Es kommt eigentlich aufs Gleiche heraus. Gottesliebe und Nächstenliebe sind für Jesus zwei Seiten einer Medaille.
Mit dieser Idee steht Jesus sogar ganz fest in der Tradition seiner Vorfahren, dieses Gebot verbindet bis heute Menschen jüdischen und christlichen Glaubens. Ja, ich glaube, es verbindet ihn sogar mit den Menschen, die nicht so richtig glauben können oder wollen und ihre Schwierigkeiten mit Gott und der Kirche haben.
Auf die Liebe kommt es an.
Ich finde: Das ist Gottesdienst. Gottesdienst im Alltag. Nächstenliebe ist so etwas wie Gottesdienst.
Ich bin davon überzeugt, dass Gott das sieht, wenn Leute jeden Sonntagmorgen die Schwiegereltern abholen und mit ihnen zum Essen fahren. Oder auf dem Sommerfest für ihren Verein Schüsselweise Kartoffelsalat zubereiten, der dann zu 1, 50 Euro pro Person für die Behinderteneinrichtung am Ort verkauft wird. Ich glaube, dass Gott das sieht, wenn Menschen sich für andere einsetzen und dass er dafür sorgt, dass das alles nicht vergeblich ist und das Zusammenleben voran bringt.
Eigentlich ganz einfach das und wunderschön, diese Nächstenliebe, mit der man nicht nur was für andere tun, sondern sogar Gott ein Stückchen näher kommt.

Auf die Liebe kommt es an.
Auf die Liebe zu den Nächsten. Und auf die Liebe zu Gott.
Folgende Anekdote macht mir das deutlich.
Bei einem Besuch in der DDR trifft der Theologieprofessor Karl Barth auf den Staatsratsvorsitzenden Wilhelm Pieck. „Nicht wahr, Herr Professor“, sagt der kommunistische Politiker zu dem Schweizer Theologen. „Sie sind doch auch der Ansicht, dass es gut ist, wenn eine Gesellschaft nach den 10 Geboten lebt.“ „Aber sicher doch!“ entgegnet ihm dieser. „Vor allem nach dem ersten!“
„Ich bin der Herr, dein Gott – du sollst keine anderen Götter neben mir haben!“ Das steht noch vor den anderen Geboten: Nicht stehlen, nicht töten, nicht das begehren, was anderen gehört. Respektvoll mit anderen umgehen und nicht nur das eigene Wohl, sondern das der Gemeinschaft im Blick haben, das ist auf jeden Fall gut, wo Menschen zusammen leben: in einem Staat, einer Dorfgemeinschaft, einer Familie, einem Kollegenkreis. Ich erlebe da wirklich ganz eindrückliche Beispiele von gelebter Nächstenliebe, wenn ich mich bei mir umschaue.

Aber ich erlebe auch viel Druck dabei, viel Stress, wenn es darum geht, es gut zu machen.
Ja, die Erwartungen sind oft sehr hoch. Die Erwartungen, die andere an mich haben. Und die Erwartungen, die ich selbst an mich habe.
Ich weiß ja, dass ich‘s nicht allen recht machen kann, aber das wurmt mich auch.
Und dass ich nicht alles schaffen und überall helfen kann, das tut mir richtig Leid.
Ich denke, deshalb hat Jesus an das erste Gebot erinnert. Du sollst auf Gott vertrauen – darauf kommt es an! 
Gott lieben – von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzer Kraft.
Für Jesus ist das offensichtlich sogar die Voraussetzung, um wirklich für andere da zu sein und es gut zu machen.
Für mich hat das etwas sehr Befreiendes.
Gott zuerst, der ist für mich da – und dann erst kommen die anderen, die mir sagen, was ich zu tun habe.
Gott zuerst, der weiß doch, was ich brauche und wie‘s um mich steht  – und dann erst kommen die Anforderungen, die Beruf und Familie an mich stellen.
So möchte ich mich einfach ganz fest auf Gott verlassen: Wenn mein schlechtes Gewissen mich quält, macht er mich wieder ruhiger. Und da kann ich auch mal fragen, ob das eigentlich wirklich alles so nötig ist, was „man“ von mir erwartet –  auch als Mitarbeiterin und Vereinsmitglied und Bürgerin.
Ich muss nicht perfekt sein, ich  bin nicht für alles und alle verantwortlich.
Aber voller Gottvertrauen kann ich tun, was in meiner Macht steht.
Soweit meine Kräfte reichen und meine Zeit es zulässt.
Ich kann mit der fröhlichen Gewissheit ans Werk gehen, dass Gott es gut machen wird, was bei mir vielleicht doch nur bruchstückhaft bleibt.
Dann kann ich tun, wozu mich die Liebe treibt. Denn auf die Liebe kommt es an!
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen heute einen guten, gesegneten Sonntag und eine gute Woche!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18205
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