SWR3 Gedanken

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Neunzig Jahre wird sie heute alt. Sie heißt Johanna und erinnert sich noch gut an die Zeit, als sie ihrer Mutter beim Brotbacken half und die Beste in ihrer Klasse war. Das war, bevor der Krieg ihre Kindheit zerstört. In den Trümmern begräbt sie ihre Träume, Lehrerin zu werden. Aber mit dem schneidigen Karl beginnt ein neuer Traum.
Der schneidige Karl gerät in Kriegsgefangenschaft. Als er nach Hause kommt, ist er an Leib und Seele gebrochen. Johanna sorgt für Karl, die beiden Kinder, Haus und Hof. Nur noch nachts wagt sie zu träumen. Von einem Leben, das mehr ist als Pflicht und Fron. Von einem Leben, das Freude macht.
Als Karl stirbt, ist Johanna Mitte Vierzig. Sie trauert angemessen um Karl. Noch mehr trauert sie um ihr Leben. Bis ihre Schwägerin ihr davon erzählt, dass dringend Grundschullehrer gesucht werden. Johanna ergreift ihre Chance. Und heute an ihrem 90. Geburtstag sortieren ihre Urenkel die Glückwunschkarten ehemaliger Schüler und Schülerinnen auf dem Gabentisch.
Du solltest ein Buch schreiben, sagen nicht nur ihre Kinder. Johanna winkt ab. Meine Geschichte ist nichts Besonderes, sagt sie. Mag sein, denke ich. Mag sein, dass andere ähnliche Geschichten zu erzählen haben. Von Träumen und Trümmern können eine Menge Menschen ein Lied singen. Aber gerade deshalb braucht die Welt Geschichten, die von Chancen und Neuanfängen sprechen. Und von dem Mut, der Chancen ergreift und einen neuen Anfang wagt.
Johanna wird vermutlich kein Buch mehr schreiben. Aber vielleicht tun Sie das. Vielleicht teilen Sie die Erfahrung der alten Dame: dass es nie zu spät ist, Chancen zu nutzen. Und dass das allemal besser ist, als Träume zu begraben und über Trümmer zu weinen. Dann schreiben Sie darüber, erzählen Sie anderen davon. Seien Sie das, was Johanna für mich ist: ein Mutmach-Mensch.

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