Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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So genau wollte ich’s gar nicht wissen.“ Dieser Satz ist mittlerweile ein echter Running Gag geworden. Ich sage das manchmal zu einem zugeknöpften Gesprächspartner. Damit gebe ich ihm auf nette Weise zu verstehen, dass ich schon gern ein bisschen mehr erfahren hätte.

Es gibt aber auch Situationen, in denen diese Aussage nicht ironisch gemeint ist, sondern ernst, sehr ernst sogar. Situationen, in denen ein Wissen so belastend werden könnte, dass man ihm vielleicht nicht gewachsen wäre. Ein schwerkranker Patient signalisiert, dass er die tödliche Diagnose nicht hören will, und der Arzt und die Angehörigen verstehen und respektieren seinen Wunsch.

Das gilt aber nicht nur fürs Sterben. Heute muss jede schwangere Frau für sich und ihr Kind entscheiden: Lasse ich alle Untersuchungen machen, die möglich sind? Natürlich ist es beruhigend zu erfahren, dass mit dem Kind alles okay ist. Aber was mache ich, wenn eine Behinderung erkannt wird? Dann muss ich eine Entscheidung treffen, die mich vielleicht überfordert.

Wissen gilt als hoher Wert, und das Wissenwollen ist so etwas wie der Treibstoff des Fortschritts. Wir leben heute in einer Wissensgesellschaft, sagt man nicht ohne Stolz. Aber unser Wissen kann uns auch über den Kopf wachsen, so groß werden, dass wir es nicht verkraften.

Ich habe manchmal den Eindruck, dass unsere Intelligenz uns gleichsam davon galoppiert. Und unsere anderen Kräfte, die Seele, das Gewissen, die können mit diesem Tempo nicht mithalten und hinken hinterher. Mir kommt das vor wie bei einem Wunderkind, das schon die kompliziertesten Gleichungen löst – und anschließend mit seinen Kumpels Räuber und Gendarm spielt.

Natürlich profitiere auch ich – wie wir alle – von dem hohen Wissenstand, den wir heute erreicht haben. Etwa wenn ich von einer Krankheit geheilt werden kann, an der ich früher gestorben wäre. Aber trotz all der Vorteile muss ich persönlich immer wieder prüfen, was ich mir an Wissen zumuten kann. An Wissen über mich, über andere, über die Welt. Und manchmal bin ich dann so frei und sage, ganz ohne Ironie: „So genau wollte ich’s gar nicht wissen.“

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