SWR2 Wort zum Sonntag

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Was macht die Seele Europas aus? Angesichts dieser vielschichtigen Vergangenheit, die unser Europa in sich trägt.
Um dieser Frage nachzugehen, lohnt heute am 11. November, ein Blick nach Frankreich. Auf zwei Gedenktage, die in Frankreich ihren Ort haben:
Der eine Gedenktag erinnert an das Ende des 1. Weltkrieges und der zweite an den Tod des Heiligen Martin von Tours.
Zeitlich liegen die beiden Ereignisse über 1 ½ Jahrtausende auseinander. Aber sachlich gehören sie für mich zusammen.
Der erste Gedenktag: Am 11. November 1918, vor 94 Jahren, wurde in Compiègne der Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich unterzeichnet. Der Erste Weltkrieg war zu Ende. Meine Großeltern - alle 4 waren so um die 20 - haben damals gehofft, dass ihnen ihr 20. Jahrhundert doch noch Frieden bringen könnte. Obwohl es so furchtbar angefangen hatte. Mit dem ersten Krieg, in den beinahe die ganze Menschheit verstrickt war. Geführt mit allen technischen Errungenschaften der Moderne. Nicht nur gegen Soldaten, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung. Sogar ein Krieg gegen die Natur: Bis heute kann man in den südlichen Vogesen die Wunden sehen, die er ihr geschlagen hat.
Heute vor 94 Jahren sah es so aus, als wäre Frieden möglich. Aber es ist anders gekommen. Obwohl der Krieg so schrecklich war, haben die Menschen ihn nicht verlernt. Im Gegenteil. Gerade mal 20 Jahre später ging er weiter. Noch moderner, noch effizienter, noch schlimmer. Eine Spirale, die mich erschauern lässt. Welche Abgründe.
Wir sind zurecht stolz auf die Moderne, aber diese dunklen Seiten gehören auch zu ihr. Die Aufklärung haben sie nicht verhindern können. Weil sie ein Teil von uns Menschen sind? Zusammenzuleben ohne Krieg, ich glaube, das muss jede Generation neu lernen. Und dafür finde ich Sankt Martin ein bleibendes Vorbild.
Auch an ihn wird heute erinnert. Am 11. November 397 wurde er beerdigt. Seine Zeitgenossen haben ihn sehr bald verehrt, weil er sein Christsein so überzeugend gelebt hat. Martin ist der erste Heilige der Christentumsgeschichte, der nicht als Märtyrer gestorben ist. Zugespitzt könnte man sagen: Er ist der erste, der nicht seines Todes, sondern seines Lebens wegen zum Heiligen geworden ist. Legendär ist die Szene, als er vor der Stadt Amiens im Winter seinen Soldatenmantel halbiert und mit einem Armen teilt.
Es ist kein Zufall, dass Martin so dargestellt wird. Die Szene bringt seine Lebenswende als Momentaufnahme auf den Punkt, obwohl er seine Wende erst einige Zeit später wirklich vollzogen und auf Dauer gestellt hat. Denn vor Amiens war Martin noch das, was er durch Geburt geworden ist: Römischer Soldat. Chaos und Krieg gegen Germanen war damals Normalzustand. Er ist nicht als Mensch des Friedens auf die Welt gekommen. Er hat Frieden gelernt.
Geboren ist er als Sohn eines römischen Offiziers. Mit 15 tritt er auf Druck seines Vaters in die Armee ein. Dient viele Jahre im unmittelbaren Umfeld des Kaisers. Kurz nach der Begegnung von Amiens lässt er sich taufen. Und zwei Jahre später vollzieht er seine Lebenswende auch klar nach außen:
Am Vorabend einer Schlacht in der Nähe von Worms bittet er um seine Demission. Krieg zu führen steht inzwischen völlig konträr zu der christlichen Überzeugung, die in ihm gewachsen ist. Die restlichen 40 Jahre seines Lebens, auch als Bischof, lebt er sehr einfach, asketisch.
Vor allem zwei Grundhaltungen prägen ihn und dafür wird er in vielen Ländern Europas verehrt:
Martins Christentum ist diakonisch, geprägt vom Einsatz gegen Armut und für Arme. Und sein Christentum bedeutet die Absage an Krieg als politisches Machtmittel.
Ein Heiliger von vor 1600 Jahren. Und trotzdem: Bei ihm finde ich den geistigen und moralischen Reichtum, auf den wir Europäer uns auch heute noch beziehen können, 94 Jahre nach dem 1. Weltkrieg.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14150
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