SWR2 Wort zum Sonntag

SWR2 Wort zum Sonntag

07OKT2012
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Heute Vormittag wird Papst Benedikt XVI. in einem großen Festgottesdienst auf dem Petersplatz in Rom die Heilige Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin erheben. Gleichzeitig beginnt mit dieser Feier die Weltbischofssynode mit der Suche nach neuen Wegen der Evangelisierung. Als Delegierter der Deutschen Bischofskonferenz kann ich selbst daran teilnehmen. 50 Jahre nach Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils, dessen Beginn sich am kommenden Donnerstag zum 50. Mal jährt, bewegt es mich als Nachgeborener, auf diese Weise mit einem jüngeren Aufbruch der Kirchengeschichte in Berührung kommen zu dürfen. Ich habe nur vage Kindheitserinnerungen an das Konzil, weiß noch, dass meine Eltern und andere Erwachsene damals mit großem Interesse dabei waren, oft davon sprachen und sich schon bald danach in der Liturgie der Kirche manches änderte. Als Ministrant habe ich später erlebt, wie hilfreich es war, die Heilige Messe in der Muttersprache mitfeiern zu können. Im Religionsunterricht auf dem Gymnasium und als Student der Theologie habe ich später die Texte des Konzils kennengelernt und bin von ihrer geistlichen Sichtweise der Kirche als Zeichen für die Welt tief beeindruckt. Ihr spirituelles Profil ist die pastorale Wegweisung. Die Texte des Konzils atmen den Geist, den Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch in unserem Land vor einem Jahr prägnant ins Wort gebracht hat, als er von der Entweltlichung der Kirche im Interesse einer größeren Zuwendung zu den Menschen gesprochen hat. Nicht Weltflucht, sondern Sauerteig in der Welt, Kontrast zu einer Beliebigkeit, Wachsamkeit für eine Kritik an der Kritik ist manchmal das Kreuz Jesu, zu dem die Kirche zu stehen hat. Das Konzil sieht die Kirche nicht von der Welt, wohl aber für die Welt bestimmt.

Im Zeugnis der Heiligen Hildegard von Bingen leuchtet viel von dieser Freiheit und Verbindlichkeit auf. Ihre große Popularität in unserer Gesellschaft weit über kirchliche Kreise hinaus, lässt erkennen, wie sehr die Menschen heute nach einer geistlichen Nahrung hungern, die sie über den Alltag dieser Welt hinaus führt. Die drei Hauptwerke, die die Hl. Hildegard hinterlassen hat, zeugen von einer tiefen Kenntnis der menschlichen Seele, mit ihren Grenzen und verweisen darauf, dass der Mensch in der betenden Begegnung mit Gottes Größe über sich hinauswächst. Das erste Buch „Sci vias - Wisse die Wege" ist ein Zeugnis ihrer eigenen Berufung zu einem Menschen, der sich die Sicht Gottes auf diese Welt zu Eigen gemacht hat. Das zweite „Buch der Verdienste" spricht von den Lastern des Lebens und der Gabe des Glaubens, diesen so ins Auge schauen zu lernen, dass der Blick an den menschlichen Grenzen bis zur Größe Gottes durchbricht. Das Altenwerk Hildegards ist ihr „Buch vom Wirken Gottes", das seine Schöpfung zu verstehen versucht und daraus die Erkenntnisse ableitet, was den Menschen heilt, der krank wird, wo er seine Mitte als Geschöpf Gottes verliert.
Darüber hinaus hat die Hl. Hildegard von Bingen 390 Briefe hinterlassen, die zeigen, wie sie mit Päpsten und Herrschern ihrer Zeit im Austausch stand und sich nicht scheute mahnende Worte zu wagen, wo in Kirche und Welt der Blick auf Gott verstellt ist.
Innerlichkeit und Bodenständigkeit bestimmen ihr Zeugnis und machen sie zu einer Orientierung für uns, wenn es gegenwärtig darum geht, den prophetischen Platz der Kirche in der Welt auszumachen. Liebe zu Gott, Verantwortung für die Schöpfung, eine Unterscheidung der Geister und die Bereitschaft, Umkehr zu wagen, sind Weisungen, die das Zweite Vatikanische Konzil als das wahre Aggiornamento, als dringliche Zeitansage im Licht des Evangeliums begreift. Wenn seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil einzig Frauen zur Kirchenlehrerin erhoben worden sind - Katharina von Siena, Teresa von Avila, Terese von Lisieux, und heute Hildegard von Bingen - kommt darin zum Ausdruck, was Papst Benedikt als ihre Wegweisung herausstellt: „mutig die Zeichen der Zeit" zu erkennen und sie im Licht des Evangeliums zu verstehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13956
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