SWR2 Wort zum Sonntag

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Gibt es das noch, das Heilige? In unserer Moderne. Wo ich gewohnt bin allen Erfahrungen, die ich mache rational auf den Grund zu gehen. Sei es Erfahrungen in der Natur, mit mir selbst und mit meiner Umgebung?
Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto hat in seinem Buch „Das Heilige" gemeint, ja, das gibt es noch. Es gibt auch in der Moderne Erfahrungen, die aus dem gewohnten Fluss des Lebens herausragen. Entweder weil sie mich ergreifen und sprachlos machen in ihrer Schönheit. Oder aber weil sie so abgründig sind und einen so erschrecken, dass eine rationale Erklärung weder die Schönheit noch die Abgründe erfassen kann. Rudolf Otto hat für diese beiden Erfahrungen ein starkes Begriffspaar geprägt: Das Heilige zeigt sich für ihn zum einen als „mysterium fascinosum" und zum anderen als „mysterium tremendum".
Fasziniert und staunend bin ich vor zwei Wochen im Urlaub zwischen den grandiosen Felsenformationen im Elbsandsteingebirge gewandert. Fasziniert bin ich immer wieder stehen geblieben, um diese großartige Natur wirklich wahrnehmen zu können. Und auch wenn ich mir rational erklären kann, wie sich diese Felsen entwickelt haben. Das Wissen mindert nicht mein Staunen, es erweitert die Wahrnehmung, aber es verdrängt die staunende Faszination nicht.
Ich finde, ja, es gibt sie noch die Erfahrungen des Heiligen. Für mich als Christ weisen sie auf Gott hin.
Ein paar Tage später, zurück aus dem Urlaub, habe ich die andere Seite des Heiligen gespürt. Die Erschreckende. Mitten im Alltag. Ich komme heiter und nichts Böses erwartend ins Büro. Mache einen Abstecher zu Kolleginnen, bei denen es immer was zu lachen gibt. Aber als ich in ihr Zimmer komme, ist mit Händen zu greifen: Hier ist was passiert. Mit Tränen in den Augen erzählen die beiden, dass ihre Kollegin am Schreibtisch einen Schlaganfall erlitten hat. Gerade gestern. Der Schreck sitzt ihnen noch in den Gliedern: Wie abgründig das Leben doch manchmal sein kann. Im Moment können sie nur hoffen.
Wenn es stimmt, dass es solche heiligen Erfahrungen immer noch gibt, dann stellt sich mir die Frage: Wie begegnet man ihnen angemessen? Wenn Erfahrungen so außergewöhnlich sind, reicht dann das normale Verhalten, das mich sonst durch meinen Alltag trägt? Was ist angemessen für die beiden Kolleginnen? Wie sollen sie mit ihrem Erschrecken umgehen?
Paulus hat in seinem Brief an die Gemeinde im kleinasiatischen Galatien einen Rat gegeben, die für meine Ohren erstaunlich modern und angemessen klingt. Er meint, dass man dem Heiligen in einem adäquaten Geist begegnen sollte:
Er schreibt:
Wenn wir durch den Geist Gottes das Leben haben, dann gilt:
Aus diesem Geist heraus wollen wir auch unser Leben führen.
Wir sollen nicht überheblich auftreten, einander nicht herausfordern und nicht neidisch aufeinander sein.
Helft einander, die Lasten zu tragen. So erfüllt ihr das Gesetz, das Christus gegeben hat. Solange wir noch Zeit haben, wollen wir allen Menschen Gutes tun. (Gal 5,25-26; 6,1-3.7-10)
Ich verstehe das so: Es ist wichtig, über Heilige Erfahrungen nicht hinweg zugehen, im Gegenteil: Sie aufmerksam zu beachten. Und aktiv anzugehen. Wenn das Heilige den Alltag unterbricht, ist es angemessen, sich unterbrechen zu lassen. Ich glaube, für die beiden Kolleginnen z. B. ist es wichtig, dass sie an ihrem Arbeitsplatz über ihre Erfahrung sprechen können. Dass Vorgesetzte das zulassen und fördern. Die Last des Schreckens miteinander zu tragen bedeutet auch, dass die Kollegin im Krankenhaus nicht vergessen wird.
Und die anderen Heiligen Erfahrungen, die einen faszinieren und staunen lassen wie die Felsen im Elbsandsteingebirge? Auch sie verdienen es, dass ich sie nicht übergehe. Sondern sie in Worte fasse und dankbar bin, auch für die glücklichen Momente, die das Heilige uns schenken kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13823
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