SWR2 Wort zum Sonntag

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09SEP2012
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Ist Dialog möglich? Dialog als Grundhaltung? Als die ehrliche Bereitschaft, auf einander zu hören, sich gegenseitig auch bei unterschiedlichen Meinungen mit Respekt zu begegnen und Verständigung zu suchen?
Diese Frage ist nicht rhetorisch gemeint, sondern drückt eine ernste Sorge aus. Ich erlebe zurzeit, wie schwer sich unterschiedliche Gruppierungen in der Kirche damit tun, unvoreingenommen ins Gespräch mit einander zu kommen und im Gespräch zu bleiben. In unserer Gesellschaft melden sich Menschen mitunterschiedlichsten Lebenskonzepten zu Wort und können sich oft kaum mehr verständigen. Dabei sehe ich auch, dass christliche Grundüberzeugungen ins Abseits geraten, als unaufgeklärt abgelehnt oder angefeindet werden. Umgekehrt sind freilich auch Christen manchmal in der Gefahr, den Vertretern anderer Positionen ihre moralische Ernsthaftigkeit abzusprechen. Ist Dialog sonoch möglich?
Ein ermutigendes Signal sind für mich die Studien des Soziologen Hans Joas. Ihm wurdekürzlich die Ehrendoktorwürde der Tübinger Katholisch-Theologischen Fakultät verliehen. Zwei Gedanken aus seinem jüngst veröffentlichten Buch „Glaube als Option" möchte ich aufgreifen. Der erste Gedanke lautet: - Entgegen einer weit verbreiteten These ist das, was wir als „Moderne" bezeichnen, keineswegs mit einem Verschwinden des Religiösen verbunden. Wir erleben heute vielmehr religiöse Überzeugungen in einer kaum überschaubaren Vielfalt. Wenngleich auch solche religiösen Überzeugungen oft nicht mehr kirchlich gebunden sind. Gemeinsam ist ihnen dennoch, dass die Menschen nach einem Sinn für ihr Leben suchen, der mehr ist als materielle Interessen oder egoistische Selbstgenügsamkeit.
Wir begegnen Menschen, die vergeben, obwohl dies kaum verständlich ist. Wir begegnen Menschen, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit hoffen. Wir begegnen Menschen, die mit großer innerer Stärke Leid ertragen. Wir begegnen Menschen, die den Mitmenschen um seiner selbst willen lieben. HansJoas spricht hier von „Selbsttranszendenz", der Fähigkeit über sich hinauszuschauen, über sich hinauszutreten. Wer die Menschen ernst nimmt, sollte dies ernst nehmen. Und er sollte auch ernst nehmen, dass dies bei vielen ihrem Gottesglauben entspringt oder in diesen einmündet. 
Andererseits - das ist der zweite Gedanke - führt eine solche „Selbsttranszendenz" nicht bei allen zu einem ausdrücklichen Glaubensbekenntnis. Viele bezeichnen sich bewusst als nicht gläubig. Dennoch sollte man ihnen nicht unterstellen, ohne eine persönliche Gottesbeziehung seien sie nicht zu glaubwürdigem moralischem Handeln fähig. Überheblichkeit ist auf beiden Seiten fehl am Platz. Geboten ist vielmehr, was icheinmal im Gespräch von einem katholischen Theologen in Indien gehört habe: „Den Anderen so zu verstehen lernen, wie er sich selbst versteht, damit er lernt mich so zu verstehen, wie ich mich selbst verstehe." Das erfordert Respekt vor dem Anderen sowie Demut und die Bereitschaft, das scheinbar Selbstverständliche meiner eigenen Anschauungen befragen zu lassen. Nur so kann einDialog beginnen. 
Eine solche dialogische Grundhaltung ist notwendig, wenn wir die großen gesellschaftlichen Herausforderungen gemeinsam angehen wollen: Wie wollen wir leben, damit es gerechter unter den Menschen zugeht? Wie können wir die bedrohte Schöpfung bewahren? Wie dienen wir einem dauerhaften Frieden? 
All dies erfordert den Dialog: innerhalb der Kirchen und in der Ökumene, zwischen den Religionen, zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Das bedeutet auch keineswegs, das, was uns etwas wert ist, beliebig zu relativeren. Wohl aber gilt nach einem Wort des Völker-Apostels Paulus: „Prüfet alles, das Gute behaltet." (1 Thess 5, 21)

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