SWR4 Abendgedanken BW

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Ich unterrichte das Fach Religionspädagogik an einer Berufsschule. Den angehenden Erzieherinnen und Erziehern dort habe ich die Aufgabe gegeben: Stellt mir eine besondere Frau aus Eurer Familiengeschichte vor.
Wie würde es Ihnen mit dieser Aufgabe gehen? Fällt Ihnen spontan eine Frau aus Ihrer Familie ein, die ein besonderes Leben geführt hat? Vielleicht die eigene Großmutter, die viele Kinder großzogen hat und uralt wurde? Vielleicht eine Tante, die nach dem Krieg anderen geholfen hat? Ein besonderes Leben muss nicht bedeuten, dass die Person große Heldentaten vollbracht hat. Nur wenige werden eine Berühmtheit in der eigenen Familie haben. Oft sind es die kleinen Dinge, die einen Menschen für uns ganz besonders machen. 
In der nächsten Schulstunde haben die Schülerinnen und Schüler von den Frauen aus ihrer Familie erzählt. Im Klassenraum war es ganz still. Von außen betrachtet waren es eher unspektakuläre Lebensläufe. Es ging fast nie um besondere Leistungen, sondern meistens um die persönliche Beziehung der Schülerinnen und Schüler zu diesen Frauen. Von einer wurde zum Beispiel berichtet, dass sie immer das ganze Dorf zum Lachen bringen konnte. Ihre Geschichten waren einfach legendär, ihre gute Laune ansteckend - selbst als sie im Alter mit Krankheiten zu kämpfen hatte. Die Schülerinnen und Schüler haben schnell ein Gespür dafür entwickelt, was an den Lebensgeschichten so besonders war. Es gibt Menschen, ohne die wäre unser eigenes Leben ein anderes. Menschen, an denen wir uns orientieren. Oder bei denen wir spüren, dass sie uns ähnlich sind. Eine Schülerin hat gesagt: „Ich habe meinem Onkel von dieser Hausaufgabe erzählt. Er hat mich gebeten, die Geschichte meiner Oma für die ganze Familie aufzuschreiben. Dann können auch die anderen aus der Verwandtschaft sich besser an sie erinnern." Eine Schülerin hat irgendwann gefragt: „Warum haben Sie uns diese Aufgabe überhaupt gestellt? Was haben denn diese Geschichten mit dem Fach Religionspädagogik zu tun?" Ich habe ungefähr so geantwortet: „Nur wer seine Herkunft kennt, kann auch vertrauensvoll in die Zukunft zu schauen. Jeder von uns ist verwurzelt in seiner ganz eigenen Familiengeschichte. Vieles mag da auch belastend sein. Darum ist es gut, nach Beispielen zu suchen, die Mut machen."

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12168
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