SWR4 Abendgedanken RP

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Das war unser Tag. Der Nikolaus-Tag. Schon am Abend vorher konnten wir vor Aufregung kaum einschlafen. Und sind dann am Morgen runter ins Wohnzimmer gestürzt. Und wie immer lagen dann Lebkuchen und Äpfel, Nüsse und Mandeln, Schokolade und Mandarinen in einem Teller. Leibhaftig kam der Nikolaus niemals. Wir haben immer nur am Morgen seine Geschenke gefunden.
Ich fand das als Kind geheimnisvoll und spannend. Aber so ähnlich erzählen es auch viele alte Legenden. Da hört Nikolaus, dass ein Mann seine Töchter nicht mehr ernähren kann. Sie sollen verkauft werfen. Und Bischof Nikolaus schleicht sich in der Nacht heimlich zum Haus der Familie, wirft Geld durchs Fenster oder durch den Kamin. Die Familie ist gerettet.
Und da gibt es noch die Legende von der wunderbaren Getreidevermehrung. In Myra, in der heutigen Türkei, war Nikolaus Bischof. Einmal herrscht dort eine große Hungersnot. Da legen im Hafen Getreideschiffe an. Nikolaus macht sich auf, will um Korn für Myra bitten. Aber das Getreide ist für den römischen Kaiser bestimmt. Nikolaus aber bittet und bettelt so lange, bis er 100 Scheffel bekommt. Seine Garantie? Er versichert den Kaufleuten, dass durch sein Gebet kein Korn von der Ladung fehlen würde. Und so ist es auch. In Rom sind auf wundersame Weise die 100 Scheffel Getreide wieder mit an Bord. Märchenhaft hört sich das an. Wer soll das glauben? Ich glaube, dass in solchen Geschichten ein wahrer Kern steckt, wie in vielen Märchen auch. Der wahre Kern dieser Legenden? Nikolaus macht vor, dass Armut und Hunger niemandem egal sein können. Hunger und Armut sind skandalös. Im vierten Jahrhundert in Kleinasien, und auch heute noch überall auf der Welt. Und sie enden erst dort, wo Menschen etwas von ihrem Besitz abgeben. Wo sie Korn oder Geld oder Wissen oder Zeit für andere bereitstellen.
Davon hat uns auch der Teller am Nikolausmorgen erzählt. Wie gut es tut, etwas geschenkt zu bekommen - auch wenn man genug Geld und genug zu essen hat. Und wie gut tut das erst recht denen, die zu wenig zum Leben haben.

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