SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

In einem Gedicht von Tomas Tranströmer, Nobelpreisträger für Literatur in diesem Jahr, heißt es:
Die Begräbnisse kommen / dichter und dichter / wie die Straßenschilder / wenn man sich einer Stadt nähert.
Ähnlich empfindet man es, wenn man als älterer Mensch den Friedhof besucht. Man sieht Gräber, in denen Menschen liegen, die jünger sind als man selbst. Man denkt an die überschaubare Zeit, die man nur noch haben wird. Es ist einem bewusst, dass man Vieles nicht mehr erleben wird, was die Kinder und Enkel vermutlich noch vor sich haben. - An den ersten beiden Tagen im November suchen viele Menschen den Friedhof auch, auch jüngere. Sie bringen Blumen an die Gräber ihrer Angehörigen. Sie erinnern sich und trauern über das Verlorene. Und für alle, die Älteren und die Jüngeren, wird augenfällig, dass das eigene Leben ein Ende haben und man selbst einmal in einem Grab liegen wird. Der Friedhof ist ein Ort, an dem man diesem Wissen nicht ausweichen kann. An ihm ist unübersehbar, dass das Leben endlich ist.
Das spürt man natürlich nicht nur auf dem Friedhof. Es wird einem immer wieder bewusst, wenn etwas im Leben zu Ende gegangen ist: die Zeit der Ausbildung, eine Liebesbeziehung, bei Älteren dann das Berufsleben, das unbehinderte Leben in Gesundheit. Viele dieser Erfahrungen sind schwer zu verkraften. Man muss lernen, mit ihnen zu leben. Manchmal schaut man zurück auf sein Leben, zum Beispiel an Geburtstagen, und erkennt, dass man für Vieles dankbar sein kann, dass aber auch Vieles unabgeschlossen geblieben ist, dass man so Vieles falsch gemacht hat und es nicht wieder gut machen kann.
Da kann der Friedhof noch etwas Anderes lehren: Ich denke an die Kreuze auf vielen Gräbern. Sie erinnern an das eine Kreuz, das Zeichen der Liebe Gottes zu sterblichen und höchst unvollkommenen Menschen ist. Es sagt mir, dass ich behütet und geliebt bin, wo ich mich auf der Straße meines Lebens auch befinde. Dass ich mich und mein Leben nicht selbst beurteilen muss und mit den Fragmenten meines Lebens angenommen bin. Dass es für mich ein Haus der Geborgenheit gibt, das ich nicht selbst zu bauen brauche. In ihm kann ich mich jetzt schon mit meinen Erfahrungen, meinen Ängsten, auch mit meinem Versagen bergen. In ihm darf ich, wenn das Leben zu Ende ist, endgültig wohnen. Es ist das Haus in der Stadt Gottes, das mir die Liebe Gottes gebaut hat. Der Friedhof mit den vielen Kreuzen erinnert mich auch daran und lehrt mich so, im Vertrauen zu leben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11797
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