SWR4 Abendgedanken RP

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Der Termin ist wichtig. Mit dem Ticket in der Tasche bin ich auf dem Weg zum Bahnhof, habe dann aber ein ungutes Gefühl. Ein letzter Blick auf den Fahrplan - dann der Riesenschreck: mein Zug fährt 10 Minuten früher ab, als gedacht. Unmöglich, denke ich, das kannst du nicht schaffen, fange aber trotzdem an zu rennen. Noch knapp zwei Minuten. Erst ganz am Ende der Straße kommt der Bahnhof in Sicht - aussichtlos. Drei Jugendliche auf alten Fahrrädern schlendern mir entgegen. Ich muss es versuchen: außer Atem frage ich den einen, ob ich mir sein Fahrrad leihen kann, nur bis zum Bahnhof, mein Zug käme sofort. Der Junge versteht mich nicht gleich, antwortet etwas in gebrochenem deutsch und zeigt nur auf meinen Rucksack. Ob er denkt, dass ich den transportieren will? Ich schüttle den Kopf, deute auf den Bahnhof und dann wild auf meine Uhr. Keine Zeit für lange Erklärungen: nur noch eine Minute. Irgendwie verseht er mich und überlässt mir sein Rad. Ich trete kräftig in die Pedale, mit größer werdendem Abstand rennt hinter mir her. Ich gebe Gas, die Straße entlang, dann über die Ampel. Beim Geländer ist ein freier Platz für das Rad. An den Lenker klemme ich einen 5 Euroschein und dann ein kurzer Blick zurück: auf der anderen Straßenseite kommt er angerannt. Ich winke und zeige auf sein Fahrrad, er lächelt und winkt zurück. Jetzt schnell ab zum Gleis. Es könnte klappen. Schon an der Treppe sehe ich die Leute auf dem Bahnsteig und entspanne mich: mein Zug ist noch nicht weg. Sekunden später fährt er ein. Puh - Glück gehabt! Glück gehabt? Das war mehr als Glück. Und vor allem: alleine hätte ich es nie geschafft. Einfach klasse, dass mir der Jugendliche sein Fahrrad geliehen hat - einem Wildfremden. Da gehört schon Großzügigkeit dazu und eine gute Portion Vertrauen. Mit diesem kleinen Erlebnis sitze ich im Zug und schmunzle in mich hinein. Einmal mehr habe ich erfahren, dass es nicht darauf ankommt, ob wir uns kennen oder nicht, oder ob wir die gleiche Sprache sprechen. Es zählt, was wir füreinander tun und wie wir mit einander umgehen - und der Junge heute, der hat mir wirklich geholfen. 

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