Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Alle ahnen es, keiner sagt etwas. Alle werden auf ihn starren. Alle werden sich denken: „Warum macht er das? Ist der wahnsinnig?" Die ganze Atmosphäre wird gestört sein. In biblischer Zeit kam der Prophet Natan in diese peinliche Situation. Er sollte zum König gehen und das aussprechen, was alle wissen oder ahnen, aber keiner sich zu sagen getraut. Der König hat ein Verbrechen begangen. Er hat einem anderen Mann die Frau weggenommen und den Betrogenen dann auch noch ermorden lassen. Es braucht Zivilcourage, um Unrecht anzusprechen und für das Recht einzustehen. Ich hatte es nicht mit einem König zu tun, sondern mit einer jungen Frau, die in einer Bäckerei über einen etwa 8jährigen Jungen hinweg bestellt hat, obwohl der Junge dran gewesen wäre. Ich habe es zu spät gemerkt. Aber immerhin: ich fand es verkehrt. Das sind zwei wichtige Voraussetzungen dafür, dass man sich couragiert, mutig einmischt, wenn ein Unrecht geschieht: Man muss das Unrecht bemerken und man muss es als Unrecht einschätzen können. Man muss Werte haben, an denen man das messen kann. Etwas Drittes kommt noch dazu, das nicht weniger wichtig ist. Man muss Verantwortung übernehmen - und das kann auch einmal peinlich sein. In der Bäckerei hätte ich die Frau darauf aufmerksam machen müssen, dass der Junge gerade dran ist. Alle hätten auf mich geschaut. Mir ist so eine Situation unangenehm. Warum eigentlich ich? Schließlich hätte die Verkäuferin ja auch etwas sagen können! Oder ein anderer Kunde hätte etwas sagen können. „Verantwortungsdiffusion" nennen die Fachleute für Zivilcourage das, wenn man darauf wartet, dass andere etwas tun. Je mehr Menschen da sind, desto länger braucht es, bis sich jemand zuständig fühlt. Jeder schiebt die Verantwortung auf den anderen. Alle wissen, dass da etwas verkehrt ist, aber niemand sagt etwas. Weil es peinlich sein könnte. Das ist verständlich, aber schade. Der Prophet Natan hatte es einfach. Dem hat Gott gesagt: „Geh los, rede mit dem König!" Da kann man schlecht nein sagen. Aber vielleicht ist es heute gar nicht so anders? Vielleicht sind wir ja gerade deshalb zum Beispiel in einer Bäckerei, weil unsere Lebenserfahrung, unsere Werte und unsere Aufmerksamkeit dort gebraucht werden, damit ein Kind sein Recht bekommt. Vielleicht sind Sie oder ich heute für jemand, der ein Unrecht erlebt, genau der Mensch, den Gott geschickt hat. Dann ist das nicht peinlich, sondern ein Glückstag, ein guter Tag, um Verantwortung zu übernehmen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11282
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