SWR4 Abendgedanken RP

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Teil I

Vielleicht kennen Sie die berühmte Kreuzigungsszene aus dem Bild von Matthias Grünewald. Neben dem Gekreuzigten steht Johannes der Täufer. Mit einem übergroßen Finger zeigt er auf Jesus. Angeregt durch dieses Bild meinte ein zeitgenössischer Theologe, man sollte einen Christenmenschen heute mit einem übergroßen Ohr malen. Denn nicht das selbstsichere Reden, sondern das übergroße Ohr mache den Christenmenschen. Ich verstehe das so: Wer zunächst „ganz Ohr” ist, kann dann zum Mund werden. Und zwar zum Mund für jene, die täglich immer noch zu Kreuze kriechen müssen.

Einen Menschen „zu Kreuze kriechen” lassen - das ist demütigend und beschämend, des Menschen also nicht würdig. Und doch geschieht es täglich irgendwo in unserer Stadt. Vielleicht sogar in unserer Nachbarschaft. Zum Beispiel in einer Ehe, wo der Partner, der „im Recht ist”, dem andern nach Jahren noch einen Fehltritt vorhält. Der Arbeitssuchende, der sich im Vorzimmer des Personalchefs erniedrigen lässt. Misshandelte Kinder und geschlagene Frauen - so viele, die zu Kreuze kriechen müssen. Es ist immer das Gleiche: Macht wird dazu missbraucht, einen Menschen klein zu machen.

Zuerst kommt das Hören. Was nehme ich wahr, wenn ich ganz Ohr bin? Wenn ich genau hinhöre auf die Geschichte, wie Jesus gekreuzigt wurde, dann wird mir klar: Äußerlich ist Jesus zwar gedemütigt und beleidigt worden. Aber in Wahrheit ist Jesus zu keiner Zeit „zu Kreuze gekrochen“. Denn vor Gott hat Jesus niemals seine Würde verloren, im Gegenteil. Gott war bei ihm bis zum Schluß, Gott hat mit ihm gelitten.

Damit ist Gott ein für allemal zum Anwalt der Gedemütigten geworden. Zum Anwalt derer, die schuldig geworden sind. und derer, die mit ihrer Not nicht wissen wohin. Gott will, dass sie aufrecht gehen können.

Wenn man mit großem Ohr auf die Kreuzigungsgeschichte hört, dann erfährt man: Jesus stirbt den Tod am Kreuz, damit nie mehr ein Mensch zu Kreuze kriechen muss - weder vor Gott noch vor einem Menschen. Menschen sollen den aufrechten Gang lernen trotz aller Schuld, die sie zu tragen haben.

Teil II

Man muss jedem eine neue Chance geben. Neu anzufangen ist möglich. Das ist vernünftig, und das sagt sich leicht, aber es zu leben ist etwas anderes. Was „Gnade” ist, glaubt heute jeder zu wissen. Und wer immer sich als Christ versteht, weiß, dass wir alle von der Gnade Gottes leben. Aber was ist, wenn ein Christ sich öffentlich dafür einsetzt, dass Gnade auch für den von Rechts wegen verurteilten Mörder und Gewalttäter gelten soll?Wenn er fragt, ob einer Begnadigung in jedem Fall die öffentlich bekundete Reue vorausgehen muss? Was, wenn einer mit der frohen Botschaft ernst macht, dass Christus auch für den Mörder und Gewalttäter gestorben ist, und keiner von uns sich sein Leben selber verdankt? Dann spaltet das Evangelium die öffentliche Meinung in verschiedene Lager.

Konkret: Durfte zum Beispiel Brigitte Mohnhaupt nach 24 Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen werden? Darf Christian Klar begnadigt werden? Beide zählten sie zum harten und gewaltentschlossenen Kern der einstigen RAF. Zu fünfmal lebenslänglich plus 15 Jahren Haft wurde Brigitte Mohnhaupt damals verurteilt. Sie verbrachte fast ihr ganzes Erwachsenleben im Untergrund oder in der Haft.

Es ist genug gesühnt, sagen die einen. Die andern halten dagegen: Die Morde an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seinen Begleitern, am Chef der Dresdner Bank Jürgen Ponto und an Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer – diese Morde können ein ganzes Leben nicht gesühnt werden. Die einen treten für Begnadigung ein. Die andern wollen die Täter von einst wirklich ein Leben lang hinter Gittern sehen.

Ich bin kein Jurist und kann den juristischen Tatbestand nicht bewerten. Ich bin Pfarrer und frage: Was eigentlich macht den Menschen zum Menschen? Ist es seine Wohlanständigkeit? Ist es seine moralische Unversehrtheit? Sind es genetische Anlagen? Oder was sonst?

Die Bibel antwortet darauf klar und eindeutig: Die Würde eines Menschen hängt nicht davon ab, was dieser getan hat. Jeder Mensch behält seine Würde, auch wenn er gegen alle Würde verstoßen hat. Deshalb sind auch Menschen wie Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar mehr, als sie selbst aus sich gemacht haben. Und eine Gesellschaft, die sich auf ihre christlichen Wurzeln beruft, bleibt verantwortlich sogar noch für ihre Feinde. Christlicher Glaube hält daran fest: der Mensch ist mehr wert, als er sich durch bürgerliche Anständigkeit erarbeitet hat.

Für uns ist das manchmal schwer zu verstehen. Doch Gott hat sich enschieden, uns Menschen so zu sehen. Gott will nämlich, dass keiner von uns verloren geht. Und wir sollen dafür sorgen, dass Menschen nicht verloren gehen, sondern wieder den Weg in die Gemeinschaft zurück finden.

Teil III

Übermorgen ist Karfreitag - für Christen ein herausgehobener Tag im Kirchenjahr.
Am Karfreitag werden die Verhältnisse wieder vom Kopf auf die Beine gestellt: Wo wir meinen, die Sache sei todsicher, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Denn das letzte Wort steht Gott allein zu. Er bringt in Ordnung, was verfehlt ist. Am Ende können wir nicht sagen: Ich erwarte von Gott die Verurteilung dessen, was ich immer schon verurteilt habe. Ich erwarte von Gott die Rechtfertigung dessen, was ich immer schon bei mir für gerechtfertigt halte. Gottes Urteil steht noch aus. Wir wissen nicht, wie es ausfallen wird und müssen es aushalten, dass wir es nicht wissen.

Bis dahin sollen wir tun, was Gott von uns erwartet: nämlich dafür sorgen, dass Menschen wieder gemeinschaftsfähig werden, die Opfer wie die Täter. Denn beide, Täter wie Opfer brauchen es, erlöst zu werden. Beide sollen in ihrem Schmerz, der Trauer, aber auch in lang schwelender Wut nicht verhärten oder davon aufgezehrt werden. Die Täter wie Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar brauchen es, damit sie die Verantwortung für ihre Taten übernehmen und die betroffenen Familien um Verzeihung bitten können - unabhängig davon, ob die Angehörigen diese Bitte annehmen können.

Manche meinen, es müsse erst genug gesühnt werden. Jedoch: Morde können nicht gesühnt werden. Selbst eine Haftstrafe bis zum Lebensende vermag dies nicht. Und was den Seelenfrieden der Opfer angeht: Stimmt sie wirklich, die Devise: Nach einem harten Urteil ist gut ruhen!? Kommen wir damit zur Ruhe?

Eine der Vaterunser-Bitten Jesu lautet: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern”. Die Fähigkeit, anderen Schuld zu vergeben, ist eng verknüpft mit dem Wissen um die eigene Schuld. Vor Gott sind wir alle auf Gnade angewiesen, vielleicht mehr, als uns bewusst ist. Aber vor Gott sind wir immer auch mehr als das, was wir im Leben getan oder unterlassen haben. Deshalb soll kein Mensch, nicht einmal eine Brigitte Mohnhaupt oder ein Christian Klar bis zum Lebensende „zu Kreuze kriechen” müssen. Jeder und jede darf als ein Mensch Gottes aufrecht gehen.

Ich bin oft fassungslos über das, was Menschen einander antun können. Doch ich möchte mir die Hoffnung bewahren, die Dietrich Bonhoeffer in die Worte gefasst hat:

Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. https://www.kirche-im-swr.de/?m=1085
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