SWR4 Abendgedanken BW

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Wenn es doch immer so klar wäre, wer die Bösen sind. Bei Pilatus bin ich mir unsicher.
Pilatus war der römische Statthalter, der damals über Jesus zu Gericht saß.
War er böse oder nur ängstlich und schwach? Hat er die Situation und die Machtverhältnisse falsch eingeschätzt?
Wir wissen nicht viel von ihm, aber das Wenige ist sprichwörtlich geworden und hat sich eingeprägt: Ich wasche meine Hände in Unschuld! Oder: Seht, das ist der Mensch! Und vor allem: Was ist Wahrheit?
Wenn Pilatus das prächtige Amtsgewand überzieht und sich dann auf den Richterstuhl setzt, geht es oft um Leben und Tod. So auch diesmal.
Die Mächtigen des jüdischen Volkes haben einen Gefangenen gebracht, dem sie Gotteslästerung und Aufruhr vorwerfen und nun soll Pilatus das Todesurteil sprechen.
Mit dem geschulten Blick des Politikers durchschaut Pilatus das Intrigenspiel der Ankläger, aber der Angeklagte, Jesus nämlich, bleibt ihm ein Rätsel.
Pilatus findet keine Schuld an ihm. Er weiß, Jesus ist kein Gewalttäter und kein Aufrührer.
Aber ist er ein Narr, ein politischer oder religiöser Schwärmer? Kann er Pilatus gefährlich werden? Einer, der sich nicht dagegen wehrt, dass man ihn „König der Wahrheit" nennt?
Pilatus ist beeindruckt und verunsichert zugleich, deshalb stellt er Jesus die berühmte Frage: Was ist Wahrheit?
Ich stelle mir vor: es ist eine echte Frage. In der Begegnung mit Jesus wird Pilatus dazu gezwungen, sich dieser Frage zu stellen und er muss über sein Leben nachdenken. Weit mehr, als er es sich sonst erlaubt.
Pilatus merkt, dass er bisher auf Wahrheit nicht viel Wert gelegt hat
Kämpfen, siegen, täuschen, Gefahren erkennen und die günstige Gelegenheit nutzen, das war seine Welt. Alles danach beurteilen, ob es nützlich und erfolgversprechend ist.
Aber Wahrheit? Was ist die Wahrheit über den Menschen?
Wenn Pilatus den Richterstuhl verlässt und sein prächtiges Amtsgewand ablegt, kommt nicht der große, nicht der mächtige Mensch zum Vorschein, sondern der unansehnliche, der ängstliche, der schwache, der schuldig gewordenene Mensch.
Ob Pilatus das kann: diese Wahrheit über sich aushalten - und doch nicht daran verzweifeln?
Ich glaube nicht, dass man das alleine kann. Ich glaube, dafür braucht es Menschen, die mir solidarisch verbunden sind, die zu mir stehen und bei mir bleiben, Menschen, die mich lieben.

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