SWR4 Abendgedanken RP

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„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Diese Worte werde ich jetzt am Palmsonntag wieder hören, im Gottesdienst - es sind die letzten Worte Jesu, bevor er am Kreuz stirbt. Zumindest berichten so die Evangelisten Markus und Matthäus. Warum musste Jesus so sterben? Wie kann ich das verstehen? Ich bin mit diesen Fragen noch nicht fertig, auch heute nicht. Aber während meines Studiums ging mir etwas auf: ich habe die Kreuzigungsszene auf dem Isenheimer Altar gesehen. Matthias Grünewald hat dieses Altarbild im 15. Jahrhundert gemalt. Jesus hängt schmerzhaft entstellt am Kreuz, die Finger an den blutenden, ausgezerrten Armen sind verkrampft, das Gesicht zeigt einfach nur Schmerz und sein Körper ist übersät mit Pestbeulen und eitrigen Wunden. Nicht nur dass das Bild abgründig und ungeschönt ist, der Maler hat Jesus auch die Pest angehängt - das fand ich beeindruckend. Denn die Pest hat ursprünglich mit Jesu Tod nichts zu tun. Sie war ja die große Bedrohung im Mittelalter, sie war der schwarze Tod, dem die Menschen in Europa schutzlos ausgeliefert waren. Ein Drittel der Bevölkerung hat sie hinweggerafft. Und der Maler Grünewald hängt Jesus die Pest an. Er hängt sie sozusagen mit ans Kreuz. Wie mag das auf die Menschen gewirkt haben? Ich stelle mir vor, wie sie in den Kirchenbänken sitzen und dieses Altarbild sehen: Jesus, der übersät ist mit Pestbeulen. Und darunter - die Gaben, Brot und Wein, die der Priester im Gottesdienst segnet. Vielleicht haben sie dabei gespürt, dass der Tod Jesu etwas mit ihnen zu tun hat. Vielleicht haben sie gespürt, dass er nicht nur Brot und Wein, sondern auch ihre Sorge und ihre Angst, teilt. Und vielleicht war das auch ein Trost für sie. Ich weiß es nicht. Heute würde das Altarbild von Matthias Grünewald anders aussehen. Die Pest würde nicht mehr mit am Kreuz hängen. Dafür aber die Kriege unserer Zeit, das Atomunglück in Japan, die Verzweiflung der Flüchtlinge und unsere ganz persönliche Not. Ich bin mit der Frage, wie ich Jesu Tod verstehen kann noch nicht fertig. Aber mir ist klar geworden, dass er das Leid derer teilt, die trauern und verzweifeln. Zumindest hoffe ich das und bete, dass es die Menschen spüren, deren Not ich nicht begreifen kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10428
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