SWR4 Abendgedanken RP

SWR4 Abendgedanken RP

Ich spaziere oft mit dem Kinderwagen durch die Weinberge, die bei mir praktisch vor der Haustür liegen. In den letzten Wochen habe unterwegs beobachtet, wie die vielen Triebe an den Reben geschnitten wurden. Meist bleibt nur eine, höchstens zwei Ruten stehen. Diese werden von den Winzern sorgsam gebogen und gebunden. Sie wissen, dass die Kraft des Bodens und der Sonne begrenzt ist - sie reicht nicht aus, dass an allen Trieben volle, reife Früchte wachsen. „Weniger ist mehr", heißt hier das Motto. Schließlich sollen die Trauben bei der Ernte süß und reif sein, damit dann auch die Qualität des Weines stimmt.
„Weniger ist mehr", der Satz könnte auch von Gott sein. Im Johannesevangelium sagt Jesus: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht". Bemerkenswert finde ich die Rolle, die Gott dabei zufällt: Gott ist der Winzer. Er reinigt die Reben und schneidet die ab, die keine Frucht bringen. Mit diesem Bild habe mich nie leicht getan. Gott ein Winzer, der die Reben abschneidet, weil sie keine Frucht bringen? Gott, einer der aussortiert und abtrennt? Leichter wird es mir, wenn ich an einen befreundeten Winzer in der Pfalz denke: von ihm weiß ich, wie viel Herzblut und Sorgfalt hinter der Arbeit im Weinberg stecken; mit welcher Umsicht und Aufmerksamkeit er täglich die Reben pflegt. Und diese Liebe zu seinem Weinberg traue ich auch Gott zu. Ich glaube, dass es ihm nicht egal ist, wie ich wachse und welche Früchte ich hervorbringe. Und weil meine Lebenskraft genauso begrenzt ist, wie die Kraft des Bodens und der Sonne, motiviert mich das Bild vom Weinstock und den Reben: darüber nachzudenken, in welchen unfruchtbaren Sackgassen ich mich verfangen habe, wo ich mich verzettle, und wo es an der Zeit ist, mich auf die Dinge zu konzentrieren, die mir wirklich wichtig sind. Weniger ist mehr, nicht nur bei den Reben im Weinberg.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10424
weiterlesen...