SWR4 Abendgedanken BW

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Nächstenliebe heißt, den anderen klarer sehen und besser verstehen. Kinder können das oft besser als wir Erwachsene. Sie helfen uns damit zu einem klaren Blick auf die Menschen um uns herum. Das zeigt besonders schön folgende Geschichte:
Der kleine Benjamin hat schon die Türklinke in der Hand, als der Vater ihn abfängt mit der Frage: „Wohin?" „Ich geh raus," sagt Benjamin. „Raus, und mit wem?" fragt der Vater. Als Benjamin zögert, fährt der Vater fort: „Ich weiß schon wohin. Um es dir klar zu sagen: Ich will nicht, dass du mit diesem Josef herumziehst."  Und auf die Frage Benjamins, warum der Vater das nicht will, fährt dieser fort: „ Du weißt selber, dass dieser Josef behindert und etwas zurückgeblieben ist, von dem kannst du nichts lernen."  Darauf wehrt sich Benjamin: „Der Josef ist in Ordnung, und ich will ja auch gar nichts von ihm lernen." „Man sollte aber von jedem etwas lernen können, mit dem man umgeht,"  meint der Vater. „Ja, ich lerne von ihm, Schiffchen aus Papier falten."  „Das konntest du schon mit vier Jahren," erwidert der Vater. „Aber ich habe es wieder vergessen", entgegnet Benjamin, „außerdem sieht der Josef mehr als ich."  Auf die erstaunte Frage des Vaters, was das denn nun wieder sei, fährt Benjamin fort: „ Er sieht besonders schöne Steine und Blätter, er weiß, wo die Katzen sind, und sie kommen, wenn er sie ruft." Dann sagt der Vater: „Pass auf, es ist im Leben wichtig, dass man sich immer nach oben orientiert, das heißt, das man sich Freunde sucht, von denen man etwas lernen kann, weil sie vielleicht ein bisschen klüger sind als man selbst."  Benjamin bleibt lange still. „Aber," sagt er schließlich, „wenn du meinst, dass der Josef dümmer ist als ich, dann ist es doch gerade gut für den Josef, dass er mich hat, nicht wahr?"
Mich hat diese Geschichte sehr betroffen gemacht. Denn sie lehrt mich, dass es nicht nur wichtig ist, jemanden zu brauchen, um besser zu werden und weiterzukommen. Sondern dass ich gebraucht werde, dass andere von mir etwas erwarten können, das ist wichtig. Dieser veränderte Blickpunkt - das ist mit der Nächstenliebe gemeint: deutlicher erkennen und besser verstehen, wo ich gebraucht werde und was ich für andere tun kann. Dabei wird man nicht ärmer, sondern reicher. Kinder wie Benjamin wissen das.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10396
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