SWR4 Abendgedanken RP

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Ich möchte so richtig aus dem Leben, aus dem Vollen, schöpfen. Jetzt in dieser Fastenzeit, die ja gerade erst begonnen hat. Ich möchte die kommenden Wochen vor Ostern so richtig  genießen. Mit allen Sinnen. Denn die Fastenzeit ist für mich nicht in erster Linie eine Zeit der Entbehrung, des Verzichts, des Abnehmens, 40 Tage ohne. Ich möchte das Leben neu wahrnehmen. Ich möchte sinnvoll und ganz leben. Ich möchte meine Sinne pflegen. 40 Tage mit allen fünf Sinnen leben. Bewusster als sonst. Ein Buch hat mich dazu animiert: „Die Stadt der Blinden" des portugiesischen Schriftstellers Jose Saramago. Nach und nach erblinden immer mehr Menschen auf geheimnisvolle Weise. Eine Epidemie scheint ausgebrochen. Die Blinden werden eingesperrt. In der „Stadt der Blinden" lebt als einzige Sehende die Frau des Augenarztes. Sie wollte bei ihm sein und hat eine Erblindung vorgetäuscht. Am Ende vieler medizinischer Bemühungen können alle Blinden wieder sehen. Ein Happy End? Nicht ganz. Am Ende des Romans sagt der Augenarzt zu seiner Frau: „Warum sind wir erblindet, das weiß ich nicht ... soll ich dir sagen, was ich denke. Ja, ich glaube nicht, dass wir erblindet sind, ich glaube, wir sind blind. Blinde, die sehen ... Blinde, die sehend nicht sehen." Manchmal ist es ja wirklich so. Ich gehe durch die Straßen einer Stadt wie blind. Ich bin zu Hause, sehe fern, sehe, was in der Ferne los ist. Aber ich sehe nicht die erwartungsvollen Augen meiner Frau, die von den Erlebnissen an der Arbeit erzählen möchte. Oder die fröhlichen Augen der  Tochter, die von ihren Erfolgen im Studium berichten möchte. Ich sehe und sehe doch nicht. Sehend blind. In der Bibel gibt es viele wunderbare Geschichten, die davon erzählen, wie Jesus einen blinden Menschen heilt. Das wünschte ich mir auch manchmal. Dass da einer kommt und meine Augen neu einstellt. Mir die Augen neu öffnet für das Schöne in der Schöpfung, für das Schöne an meinen Mitmenschen. Da gibt es doch so viel zu sehen, wenn ich genau hinschaue. Dann sehe ich auf einmal mehr. Nicht nur das Äußere. Nicht nur den Schein. Dann sehe ich in die Tiefe. Ich bin wie geheilt. Und den Menschen, den ich so anschaue, wird das spüren: Der schaut nicht an mir vorbei, der schaut nicht nur auf das Äußere, der schaut mich an. Der meint mich. Diese Erfahrung wünsche ich Ihnen - wenn möglich schon heute Abend!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10225
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