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Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP
Pepe freut sich immer doll auf Montag. Samstags fragt er, wie viel Mal schlafen noch bis Montag und wenn es dann endlich montags morgens ist, nimmt er seinen Plüsch-Hund an die Leine und klettert mit ihm auf die Sitzerhöhung in Papas Auto. Pepe ist vier und bis letzten Herbst ging er nicht gern in die Kindertagesstätte. Nein, es stimmt eigentlich nicht: Er mochte die Kita, auch Luisa, Timo und die anderen Erzieherinnen und Erzieher. Er mag eigentlich alles dort. Aber trotzdem wollte er nicht dort bleiben. Er hat versucht, stark zu sein, aber immer kamen ihm wieder die Tränen. Und jedesmal wäre er am liebsten wieder mit Papa rausgegangen, auf die Sitzerhöhung geklettert und heimgefahren. Montags war’s immer besonders blöd. Da war er nach dem Wochenende immer so richtig aus der Übung mit dem Kindergarten.
Jetzt ist das nicht mehr so. Pepe freut sich immer doll auf Montag. Sein Papa bringt ihn nur noch bis hinter die erste Tür. Pepe winkt Luisa und flitzt zu den Garderoben. Mit Hausschuhen und ohne Jacke flitzt er zurück zur Tür. Dort wartet er. Sein Plüsch-Hund sitzt neben ihm. Luisa, die Erzieherin, lächelt.
Ein paar Minuten später kommt sein Freund Amir. Und dann sieht man die beiden über den Flur laufen. Sie halten sich an den Händen fest. In der anderen Hand hält der eine den Plüsch-Hund und der andere ein Feuerwehrauto mit Sirene.
„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“, steht in der Bibel ganz am Anfang. Und beschreibt damit etwas, das die meisten von uns kennen: Es ist oft einfach besser zusammen mit anderen als allein. Offenbar gilt das auch schon für die Pepes und die anderen Kleinen dieser Welt, vielleicht für die am allermeisten. Und vermutlich können wir kaum so richtig mit Worten beschreiben, warum manche Menschen uns nicht nur sympathisch sind, sondern so sind, dass wir ihnen von Herzen vertrauen. So wie Pepe Amir vertraut. Wenn wir romantisch gestimmt sind, dann nennen wir das „Liebe auf den ersten Blick“, und das gibt’s auch bei Freundschaften. Keine Ahnung, ob Pepe und Amir in 20 Jahren noch beste Freunde sind. Aber für ein paar wichtige Tage in ihrem Leben waren genau sie der Mensch, warum der Montag nicht mehr blöd ist. Und der Dienstag auch nicht.
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Seit es die Trinkhalme aus Pappe gibt, habe ich ein Problem. Grundsätzlich bin ich sehr dafür, dass Trinkhalme, wenn man schon welche braucht, nicht mehr aus Plastik sind. Aber Halme aus Pappe verursachen bei mir Gänsehaut. Dieses stumpfe Gefühl an den Lippen. Ist übrigens das gleiche, wenn ich in einen Pfirsich beiße – diese pelzige Haut. Keine Ahnung, ob ich damit allein auf der Welt bin. Ich habe das noch nie so richtig jemanden gefragt.
So wie sich bei mir der Strohhalm und der Pfirsich an den Lippen anfühlen, vermute ich, dass jeder Mensch Reize, die er über den Tastsinn wahrnimmt, sehr unterschiedlich empfindet.
Ich sitze bei Felix. Er liegt schon länger im Krankenhaus. Inzwischen geht’s ihm besser. Felix hatte wirklich schlechte Zeiten. „Weißt du, was mich am meisten genervt hat die ganze Zeit?“, sagt er, „Dass alle, egal ob ich die Leute kannte oder nicht, meine Hand genommen und gehalten haben. Als wäre das so ein Reflex, dass man einem Kranken die Hand hält.“
Ich werde ein bisschen rot: Denn als ich reinkam, habe ich auch unwillkürlich seine Hand gegriffen. Und ich ahne, was er meint. Es ist ein weites Feld mit den Sinnen und wie sie funktionieren. Wir tun gut daran, sensibel für das zu sein, was wir so selbstverständlich tun, was andere aber vielleicht als übergriffig empfinden.
In der Bibel wird von Elia erzählt. Er ist im Auftrag Gottes unterwegs und das ist nicht immer leicht. Als dieser Prophet Elia sich unter einen Busch in der Wüste verkriecht und er zwischen Todesangst und Trotz schwankt, besucht ihn ein Engel. „Er rührt ihn an“ steht da. Ich habe mir immer vorgestellt, dass der Engel Elia mit der Hand berührt hat. Vielleicht tat er auch etwas ganz anderes. Das scheint nicht wichtig zu sein. Wichtig ist: Elia steht auf und geht seinen Weg.
Manchmal habe ich Gänsehaut, wenn ich mir vorstelle, wie viel Kraft eine Begegnung hat. Und das ist eine andere Gänsehaut als beim Strohhalm aus Pappe.
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Kennen Sie das Geräusch, wenn Kreide auf der Tafel quietscht? Es gibt ja Leute, denen macht das überhaupt nichts aus, wenn sie das hören. Andere halten sich schon vorher die Ohren zu. Obwohl man eigentlich nie genau weiß, wann die Kreide quietscht. Die Gesichter sehen dann aus als hätten die Leute Zahnschmerzen.
Menschen, die wir gut kennen, erkennen wir an der Stimme. Z.B. kenne ich sogar die meisten Tatort-Kommissarinnen und Kommissare aus dem Fernsehen an der Stimme.
Übrigens erkennen wir Stimmen von anderen leichter als dass wir die eigene Stimme erkennen. Ich wundere mich immer wieder, wenn ich mich selbst im Radio höre. Sie kennen das, wenn Sie sich selbst auf einem Anrufbeantworter hören, oder? Wir hören nach innen irgendwie anders als nach außen.
Manche Menschen sind ja in der Lage, gleichzeitig zu sprechen und zuzuhören, das bewundere ich. Und andere haben das, was man das absolute Gehör nennt. Das stelle ich mir nicht immer angenehm vor, denn es gibt ja so viele falsche Töne.
So oder so, Hören löst Gefühle aus und das hat dann auch Folgen: Ich höre Musik im Radio und ich kann nicht anders als mitzusummen. Oder die Musik bewirkt das Gegenteil und ich drehe das Radio leiser.
Ich höre, wie die Haustür geöffnet wird und entspanne, weil ich ein „Hallo“ von unten höre und weiß: Alle sind gut heimgekommen.
Salomo, ein Mann in der Bibel, wünscht sich ein „hörendes Herz“ von Gott. Er soll König werden und findet, dass er nicht der Richtige ist für diese ganze Verantwortung. Gott fragt ihn, was er ihm geben soll, damit er es sich zutraut: Ein hörendes Herz. Sagt Salomo. Nicht hörende Ohren oder ein absolutes Gehör für die ganzen falschen Töne. Wäre für einen König vermutlich auch nützlich.
Er möchte ein Herz haben, das hören kann, was andere Menschen zum Leben brauchen. Eins, das hört und das sich vor Schmerz zusammenzieht, wenn es in der Welt quietscht und kracht. Unsere Ohren als direkter Weg zum Herzen. Was für eine schöne Vorstellung.
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Über Gerüche lässt sich ja streiten. Was die eine gern riecht, ist für den anderen zum Davonlaufen. Ob ein Parfum aufdringlich oder markant ist, ist reine Geschmackssache, beim Geruch von Apfelkuchen oder Zimtschnecken, da wären wir schneller einig.
Sie mögen jetzt die Nase rümpfen und sich schütteln, aber ich mag den Geruch von Chlor, also Schwimmbadchlor. Schon wenn ich in den Eingangsbereich des Hallenbads komme, habe ich ein Gefühl von Nachhausekommen. Für andere Menschen ist der Chlorgeruch mit das Schlimmste am Schwimmbadbesuch.
Viele Stunden habe ich als Jugendliche in Schwimmbädern verbracht, beim Training, bei Wettkämpfen. Für mich ist das Schwimmbad ein Ort, an dem ich die Erfahrung gemacht habe, dass ich etwas gut kann und dass ich durch Training noch besser werde. Für mich ist es ein guter Ort und Chlor ein guter Geruch. Auch an manche Leute von damals erinnere ich mich gern, obwohl sich unsere Wege getrennt haben. Wenn ich Chlor rieche, sind sie wieder da.
Der Geruchssinn hilft uns – ebenso wie die anderen Sinne – unsere Umwelt wahrzunehmen, Dinge und Menschen einzuordnen. Unsere Nase warnt uns, wenn Essen verdorben ist. Sie vermag aber auch den Teenager, der genervt von der Schule nach Hause kommt, in gute Laune zu versetzen, wenn er schon an der Haustür Pizza riecht. Schlechte Laune beim Geruch von Linsensuppe oder Broccoli ist natürlich genauso möglich. Der Geruchssinn ist ein feiner Sinn und er hat Einfluss auch auf unser Gemüt.
Über-Sinnlich nennen wir oft den Glauben an Gott. Weil wir Gott weder sehen noch hören oder riechen können. Und weil wir ihn allzu oft gar nicht spüren.
Trotzdem glaube ich, dass Gott sich gerade durch unsere 5 Sinne seinen Weg in unsere Wahrnehmung bahnt. Unsere Sinne bringen uns Gefühle von Kraft und Gemeinschaft, sogar der Geruch von Schwimmbadchlor schafft das bei mir. Der von Apfelkuchen erst recht. Vielleicht wählt Gott den gleichen Weg, um uns zu erreichen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40867SWR1 Anstöße sonn- und feiertags
„Hm. Schmeckt nach Sonntag“, sagt sie und leckt sich über den Mund. Mir gegenüber sitzt Inge. Sie wird heute 90 und ich besuche sie zum Geburtstag. Als ich komme, hat ihre Enkelin ihr gerade eine Tasse Kakao gebracht. Inge macht keine Umstände aufzustehen als ich reinkomme. Sie setzt auch die Tasse nicht ab, sondern zeigt mir mit der Tasse in der Hand, dass ich auf ihrem gemusterten Sofa Platz nehmen soll. Die Enkelin schmunzelt und fragt: Möchten Sie auch einen Kakao? Ich überlege, wie ich am besten sage, dass mir von Kakao immer schlecht wird. Die Enkelin reagiert sofort: Lieber Kaffee, stimmt’s?
Ich lache und Inge sagt nochmal – und dabei hat sie jetzt die Augen zu:
„Hm. Schmeckt nach Sonntag.“ Nach einer Pause ergänzt sie: „Ich vertrage Kakao eigentlich nicht gut“, und ich muss lachen. „Aber ich mag so sehr, wie er schmeckt! Deswegen gab’s zu meiner Kinderzeit immer nur sonntags Kakao. Und für mich immer nur eine Tasse.“
Fünf Geschmacksrichtungen, heißt es, können wir Menschen unterscheiden: Süß, sauer, salzig, bitter und „Umami“, das ist so etwas wie herzhaft. Und wenn wir Inge glauben, dann kann unser Geschmack noch mehr: Er kann Erinnerungen hervorrufen - nicht an Einzelnes, sondern an gesammelte Kraft.
Friedrich Schleiermacher hat diesen Sinn den „Geschmack für’s Unendliche“ genannt und Religion so beschrieben. Der Glaube an Gott ist den Sinnen so oft verborgen, aber er ist nicht ganz über-sinnlich. Wie Inge „schmecken“ wir manchmal, dass es getragen ist, dieses Leben. Dabei ist es verletzlich und unvollkommen – auch Inge schmeckt, wenn sie Kakao trinkt, dass sie ihn eigentlich nicht gut verträgt.
Unser Geschmackssinn kann mehr als wir denken: Er kann uns erinnern an bittere Zeiten. Ja, leider vergisst der Geschmackssinn auch das nicht. Er kann uns ebenso an Kraft erinnern. Er kann das Leben schmecken. Oder wie Inge es ausdrückt: Manchmal schmeckt das Leben nach Sonntag.
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Der Junge hüpft mit Gummistiefeln in eine Pfütze. Hüpft und hüpft. Und lacht. Am Vormittag hatte es doll geregnet und nun weiß der Junge fast nicht, welche Pfütze er zuerst nehmen soll.
Eine Frau kommt vom Friedhof. Sie geht durch das Tor, es quietscht, der Junge schaut rüber zu ihr. Vorhin war sie mit dem Schirm durch den Regen gekommen. Das Wetter war ihr grad recht gewesen, um auf den Friedhof zu gehen. „In mir drinnen regnet es eh seit Wochen“, hat sie gedacht. Und so begegnet sie wenigstens nicht so vielen Leuten.
Jetzt geht sie auf den Jungen zu, der zu einem letzten Hüpfer in die Pfütze ansetzt. Die Frau will ausweichen, gleich wird’s platschen. Sie zögert. Und mit einem Mal tritt sie ganz fest mit dem Fuß in die Pfütze. Es spritzt, sie spürt das Wasser an der Strumpfhose. Es ist kühl. Ein eigentümlich erfrischendes Gefühl.
Sie tritt nochmal in die Pfütze, sie stampft jetzt richtig auf. Der Asphalt ist hart unter ihren Sohlen, tut fast weh. Sie spürt ihre Wut. Wie kann das hier sein? Musste das sein? Sie stampft und stampft, Tränen laufen ihr übers Gesicht. Schuhe, Strümpfe, Beine, Wangen, Gesicht, alles ist nass.
Der Junge steht noch da. Er ist ganz still in seinen gestreiften Gummistiefeln und guckt die Frau an. Langsam und vorsichtig geht er jetzt weg und macht einen Bogen um die Frau und um die Pfütze. Die Pfütze gehört jetzt ihr.
Alles hat seine Zeit, so hat in der Bibel eine gedichtet. Sie kannte das Leben wie wir. Und war überzeugt: Das Leben ist nicht einfach lose Abfolge: Hüpfende Kinder und irgendwann sind sie groß. Trauer hat ihre Zeit und irgendwann ist sie wieder gut. Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Jedenfalls nicht immer.
Die Sommerpfützen sind übrig vom Regen. Und zum Glück hüpfen auch Erwachsene manchmal rein. Wir wissen noch, wie’s geht. Nur die gestreiften Gummistiefel passen nicht mehr. Alles hat seine Zeit.
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Es gibt ja so Sachen, die machen gute Laune, einfach, weil es sie gibt. Eine besondere Fähre auf der Insel Rügen ist für mich so eine Sache. Keine Autofähre, viel kleiner. Ruderfähre steht auf dem Schild.
Der Schiffer fährt Urlauberinnen und Urlauber mit dieser Fähre über einen kleinen Arm der Ostsee. Holzstege an den Anlegestellen, daneben stehen überdachte Bänke, falls die Leute auf die Fähre warten müssen.
Früher ist der Schiffer gerudert, das sieht man seinen Armen an. Jetzt fährt er mit einem Außenbordmotor und sitzt dafür ganz hinten im Boot. Vor ihm etwa 10 Leute mit Fahrrädern. Früher hat er angepackt und zuerst die Räder ins Boot gehoben, dann aufgepasst, dass die Passagiere nicht stolpern. Jetzt hieven die Leute die Räder selbst rein.
„Das kannste selbst machen, bist jünger als ich!“, sagt der Schiffer zu den Männern, die jünger sind. Und er sagt es auch zu denen in seinem Alter. Und zu den Frauen sagt er: „Früher war’s mir eine Ehre, dir den Arm zu reichen beim Einsteigen, heut bin ich keine sichere Bank mehr. Halt dich gut fest hier!“ Er spricht mit tiefer Stimme, bisschen verschmitzt, bei manchen auch frech. Auf eine Art, die man ihm nicht übel nehmen kann.
Es ist schon ein paar Jahre her, dass ich auf Rügen im Urlaub war. An die Ruderfähre und ihren Schiffer erinnere ich mich immer noch. Die beiden wirkten ein bisschen wie aus der Zeit gefallen. Gleichzeitig sind sie für mich Bild dafür, wie sehr wir Spuren im Leben von anderen hinterlassen, wenn wir etwas mit Kraft und vor allem mit Herz und Leidenschaft tun. Ein bisschen verschmitzt, auch dann, wenn die Kraft nachlässt.
Alles hat seine Zeit. So hat einer in der Bibel gedichtet. So weise ist das. Wir müssen nicht unbegrenzt strotzen vor Kraft. Auch Fahrräder-nicht-mehr-Heben-können hat seine Zeit. Wir fallen nicht gleich aus der Zeit, wenn wir nicht mehr können, was früher ganz normal war.
„Mach mal die Leinen los, volle Kraft voraus!“, ruft der Schiffer für die Urlauber lachend. Und vielleicht meint er das auch ernst mit der Kraft.
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Der Mann steht da und spielt Akkordeon. Mitten in den Dünen auf der Insel Langeoog. Herbert heißt er und er macht das jeden Sommer. Für die Einheimischen und noch mehr für die Touristen. Die sollen nicht nur zuhören, sondern mitsingen. Deshalb hat Herbert immer einen Korb mit Liederbüchern dabei. Im Singen sind dann alle Urlauberinnen und Urlauber Nordlichter. Sie singen Lieder von Nordseewellen, die an den Strand trekken. Oder genauer: An den S-trand trekken.
Bei gutem Wetter sitzen richtig viele Leute da in den Dünen, auf mitgebrachten Hockern und auf Decken. Da sind Leute, die zu Hause immer donnerstags im Chor singen. Und andere, die immer sagen: Ach, Singen konnt‘ ich noch nie.
Es ist Sommer und Urlaub. Und da machen wir Sachen, die wir sonst vielleicht nie machen. Oder selten. Und wenn wir dann heimfahren aus dem Urlaub, dann versuchen wir etwas mitzunehmen davon, Rotwein aus Frankreich zum Beispiel und diesen besonderen Käse, Vla aus Holland, echten Ostfriesentee oder – vom Dünensingen - das Langeooger Liederbuch.
Zu Hause singe ich eher selten „Wo sie Nordseewellen trekken an den S-trand“. Nicht nur weil das Akkordeon und die Dünen fehlen. Es gehört eben zum Urlaub, nicht zum Alltag. Vla schmeckt zu Hause nicht wie in Holland und auch beim Käse kommt’s mir so vor, als sei er in Frankreich aromatischer gewesen.
Ich finde es eine liebenswerte Eigenschaft, dass wir versuchen, das zu bewahren, was uns einen Sommer lang der Geschmack von Erholung war.
Alles hat seine Zeit, sagt einer in der Bibel. Klingt wie ein altkluges Fazit: Ja, weißt du doch, alles hat ein Ende… Aber dieser weise Mensch in der Bibel wollte uns gerade daran erinnern: Leben ist nicht einfach eine lose Abfolge aus Singen und Nicht-Mehr-Singen, Urlaub und Alltag. Wir klugen Menschen, wir wissen doch, dass wir zu Hause keine Lieder von Nordseewellen singen. Aber manchmal summen wir sie doch, leise. Dann, wenn wir das im Alltag grad sehr brauchen.
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Eigentümlich ruhig ist es, als ich den großen Raum betrete. Es ist ein Kirchenraum mit hohem Deckengewölbe. Es stehen keine Bänke drin, sondern Stühle in mehreren Reihen im Halbkreis. Holzfußboden. Die Stühle sind fast alle besetzt, bestimmt 150 Leute. Man hört die Stühle auf dem Holzfußboden, man hört Geräusche, die Menschen machen, wenn sie nicht sprechen. Räuspern. Atmen. Kichern.
Lars, ein Freund, hat mich eingeladen, er steht auf, winkt mir. Ich bahne mir einen Weg durch die Stuhlreihen. Manchen lege ich meine Hand vorsichtig auf die Schulter, dass sie kurz rücken.
Es ist noch ein anderes Geräusch im Raum: Das Geräusch von Fingern und Händen, die gestikulieren, von Stoff und Schuhen auf dem Boden.
Alle, die hier sind, sind gehörlos. Sie hören mich nicht kommen, machen nicht automatisch Platz. Instinktiv spreche ich nicht. Ich mache vorsichtig mit meinen Händen auf mich aufmerksam, will mich nicht einfach durchdrängeln.
Ich setze mich neben Lars auf einen Stuhl. Als der Pfarrer hereinkommt, winkt er und alle heben die Arme zum Gruß.
Ich kann keine Gebärdensprache und außer mir sind noch ein paar andere Leute da, die hören. Der Pfarrer gebärdet, formt Worte mit dem Mund und uns zuliebe spricht er sie auch laut aus. Mitten im Gottesdienst wünschte ich, dass er die Worte einfach sein lässt. Und darauf vertraut, dass wir die Gebärden verstehen. Oder besser: Dass etwas bei uns ankommt. Von der Bewegung. Den Gebärden. Der Atmosphäre, all das spricht so viel mehr, dass die gesprochenen Worte eher ablenken oder zu sehr festlegen.
Heute ist Samstag und am liebsten würde ich am Ende dieser Woche, in der mich die Worte so beschäftigt haben, still sein. Aber Radio lebt eben davon, dass gesprochen wird. Oder dass Musik gespielt wird. Worte, sie sind ein Segen. Sie haben ihre Orte, an denen sie unabdingbar sind. Und gleichzeitig haben die Worte so viele Geschwister: Gebärden, Seufzen, Schnauben, Singen, Räuspern. Und die Stille.
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Manchmal ist es so eine Sache mit den Worten. Wenn in einer Klasse zum Beispiel 18 Mädchen und 5 Jungs sind, und der Lehrer sie alle mit „Liebe Schülerinnen anspricht, sind dann die Jungs mitgemeint?
Nein, sagen die einen. Und meinen, dass Schüler die korrekte Bezeichnung ist. Und „Schülerinnen“ ist die explizit weibliche Form, die nur für Mädchen passt.
Ja, sagen die anderen, denn in vielen Formulierungen sind Mädchen und Frauen mitgemeint, obwohl nur männliche Formulierungen gewählt werden.
Je mehr Menschen wichtig wird, dass Sprache präziser, diverser wird, desto mehr Streit gibt es darüber. Und da brauche ich das Gendersternchen noch gar nicht zu erwähnen. Sprache ist eben nicht nur ein Hilfsmittel, sondern es ist eine Ausdrucksform, eine Herzenssache. Sie verbindet. Aber sie verschweigt auch.
Ich spreche eine Frau an, die sich in einer Runde vorgestellt hat mit „Ich bin Rechtsanwalt.“ Ich spreche sie an, denn mir selbst käme tatsächlich nicht in den Sinn, mich vorzustellen mit „Ich bin Pfarrer“. Und das ist für mich gar nicht ideologisch, sondern längst einfach in Fleisch und Blut übergegangen.
Sie sagt: „Ich merke, dass es in meiner Branche immer noch so ist, dass Rechtsanwälte mehr zählen als Rechtsanwältinnen. Vielleicht war das aber auch vor allem in der Zeit so, in der ich angefangen hab. Und es ist eben noch sehr in mir drin, dass ich mithalten muss. Dass ich beweisen muss, dass ich ein guter Rechtsanwalt bin. Obwohl ich eine Frau bin.“ Ich ahne, was sie meint.
Frauen und Männer haben sich dafür eingesetzt - und tun es noch -, dass sie in Berufen gleichberechtigt angesehen sind und übrigens auch gleichberechtigt bezahlt. Und genau deshalb ist wichtig, dass man die Rechtsanwältinnen und die Dachdeckerinnen, auch die Erzieher und Altenpfleger hört, wenn wir sie nennen.
Die Schöpfungsgeschichte in der Bibel berichtet von Adam. Gott bringt alles zu ihm, um zu sehen, wie er’s nennt. Und so soll es heißen. Ich mag die Vorstellung sehr, dass wir Menschen Verantwortung dafür haben, präzise, schöne Worte zu finden.
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