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SWR Kultur Wort zum Tag
Eine Ausstellung über Bücher, die nie erschienen sind? Die gibt es zurzeit in New York. Im traditionsreichen Grolier Club. Ein Buch von Hemingway ist da zusehen, dessen Manuskript ihm gestohlen wurde. Die Liebesgedichte des großen Theologen Abelaerd an Heloise aus dem Mittelalter, die man damals hat verschwinden lassen. Vermutlich aus Anstandsgründen. . Oder es sind Bücher, die in einem anderen Buch genannt werden, die es aber gar nicht gibt.
Der Initiator der umfangreichen Ausstellung hat nun versucht, diese Bücher im Stile ihrer Zeit liebevoll herzustellen und ihnen auch einen Titel zu geben. Dabei sind wunderschöne Exponate herausgekommen. Man möchte sie am liebsten sofort in die Hand nehmen und darin blättern. Aber die Seiten der Bücher sind leer. Es sind gewissermaßen potemkinsche Bücher. Schöne Außenansichten. Überwiegend leere Hüllen.
Und mit uns Menschen ist es ja ganz ähnlich wie mit den Büchern. Das eine ist der Umschlag, das Cover, die Hülle. Das andere ist der Inhalt. Beide müssen am Ende bestenfalls zusammenkommen. Das Äußere ist das, was andere Menschen als Erstes wahrnehmen. Meine Außenansicht. Es lohnt sich, ihrer Aufmachung die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. An ihr zu arbeiten. Das andere ist der Text in meinem Lebensbuch. Was steht drin? Jeder Mensch fängt ab dem ersten Tag damit an, das Buch seines Lebens mit Inhalt zu füllen. Das Buch wird nie fertig. Jeden Tag kommen neue Seiten dazu. Manche bleiben erst einmal nur Skizzen. Andere arbeite ich ganz genau aus. Ich weiß nicht, wie mein fertiges Lebensbuch einmal aussehen wird. In einem kleinen Brief der Bibel heißt es: „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden!“ (1. Johannes 3,2) Ganz fertig werde ich in diesem Leben nie. Mein Buch bleibt Fragment. Mit Lücken und leeren Seiten. Fortsetzung folgt. Aber auch mit wunderbaren Geschichten und farbigen Bildern.
Die ungeschriebenen Kapitel, die lassen sich immer noch anfangen. Und die Seiten, die leer geblieben sind, füllen sich vielleicht dann noch, wenn mein Lebensbuch seinen endgültigen Ort findet. Nicht in New York. Sondern da, wo mein Leben aufgehoben bleibt. Und das Buch meines Lebens gewürdigt und als schön befunden wird. Von Gott. Bei dem mein Lebensweg ans Ziel kommt. Und dem, und davon bin ich fest überzeugt, jedes Lebensbuch kostbar ist.
Imaginary Books: Lost, Unfinished, and Fictive Works (https://grolierclub.omeka.net/exhibits/show/imaginary-books)
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Schwimmen zwei junge Fische nebeneinanderher. Kommt ihnen ein alter Fisch entgegen und sagt: „Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?“ Und schon ist er wieder weg. Sagt der eine junge Fisch zum andern: Was ist das eigentlich: Wasser?
Diese kurze Fabel hat der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace in einer Rede zur Abschlussfeier an einem College vorgetragen. Seine Botschaft an die jungen Menschen verstehe ich so: Nehmt die Welt um euch herum mit wachen Augen und mit klarem Verstand wahr. Stellt die richtigen Fragen. Und vor allem: Lasst euch selbst in Frage stellen. Gerade leben wir ja in sehr unsicheren Zeiten. Alte Wahrheiten sind am Zerbrechen. Und was sich da an Neuem bemerkbar macht, lässt es mir manchmal schon kalt den Rücken herunterlaufen. Ich glaube, da hilft es, sich über manche Dinge ganz grundsätzlich Gedanken zu machen.
Was ist eigentlich Wasser? Für mich ist klar: Das Wasser, der Lebensraum, in dem ich leben möchte, muss eine klar nachzuvollziehende Zusammensetzung haben: Werte der Mitmenschlichkeit und der Humanität sind das. Die Bereitschaft, andere Menschen wahrzunehmen, ihnen zuzuhören, von ihnen zu lernen. Der Verzicht darauf, andere kleinzumachen und auszugrenzen.
Wenn ich einer der jungen Fische wäre, würde ich mich vielleicht doch auch fragen: In was für einem Element bewege ich mich eigentlich? Was „umgibt mich“ in meinem Leben „von allen Seiten?“ wie es in einem Psalm heißt? Meine eigene Antwort hängt ganz eng mit meinem Glauben an Gott zusammen. Von allen Seiten möchte ich mich von Gott umgeben fühlen. Es gelingt mir längst nicht immer. Und es macht das Leben auch nicht einfacher. Man muss da nämlich auch mal in die Gegenrichtung schwimmen wie der alte Fisch in der Fabel. Man muss sich vor Raubfischen in Acht nehmen. Manchmal kann auch der Sauerstoff knapp werden. Aber wenn ich weiß, in welchem Lebensraum ich mich bewege, dann finde ich meine eigene Antwort auf die Frage: Wasser – was ist das eigentlich? Dann nehme ich das Wasser wahr als meinen Lebensraum, in dem ich mich bewegen und bergen kann. Wenn es Gott ist, der mich umgibt, lässt mich das hoffentlich gestärkt und zuversichtlich im Leben unterwegs sein.
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„Wonach ist dir?“ Diese Frage habe ich auf einem dieser kleinen Zettel entdeckt, die zurzeit überall kleben. Auf Laternenmasten. Oder an den grauen Stromverteilerkästen, die an der Straße stehen. . Kein Hinweis, von wem die Zettel stammen. Diese Frage hat mich angesprochen: „Wonach ist dir?“ Sie hat mich die nächsten Tage nicht mehr losgelassen. Ja, wonach ist mir eigentlich?
Dabei hab‘ ich gar nicht an meine allgemeine Wunschliste gedacht. Denn da könnte ich mich wahrscheinlich mit vielen Menschen schnell einigen: Einigermaßen gesund durchs Leben kommen. Bewahrung vor Katastrophen. Frieden – nicht nur bei uns. Ein anderer politischer Umgangston. Gerade jetzt im Wahlkampf. Mehr Miteinander als Gegeneinander. Es gibt noch einiges, was mir da spontan einfällt.
Aber wonach ist mir wirklich? Die Frage hat mich viel grundsätzlicher angesprochen. So als meinte sie: Worauf kommt es dir zentral in deinem Leben an? Was ist dein tragender Grund, wenn um dich herum alles ins Wanken gerät? Antworten gibt es derzeit viele. In Krisenzeiten – und die haben wir ja - sind die Menschen ja noch mehr auf der Suche als sonst. Wie finde ich einen Sinn in meinem Leben? lautet dann die Überschrift. Oder: Glücklichsein – wie geht das? Unlängst habe ich sogar gelesen: Kehrt die Religion zurück? Ich bin mir sicher: Es ist gut, wenn solche Themen wieder gelesen und diskutiert werden. Aber eine wirklich hilfreiche Antwort muss jeder, jede für sich selbst finden.
Ich beantworte mir die Frage so: „Mir ist nach Menschen, denen ich eng verbunden bin. Menschen, die sich dafür interessieren, wie es mir wirklich geht. Mir ist aber auch danach, dass ich meinen Glauben an Gott als tragfähigen Grund erlebe. Dass ich in diesem Glauben Wurzeln schlagen kann. Immer wieder neu. Nach einer Quelle ist mir, zu der ich immer wieder zurückkehren kann, um meinen Durst nach Lebendigkeit zu stillen. Ein offenes Gespräch tut mir da manchmal gut. Oder einfach einmal nichts tun, um Atem zu holen. Mir ist nach Worten, gelesen oder gehört, die mich ins Herz treffen. Die meinen Blick weit machen. Und meine Zuversicht stärken. Ich wüsste zu gern, wer den Zettel geschrieben hat. Es könnte ein richtig gutes Gespräch mit der Person werden. Aber das könnte ich heute ja auch mit jemand anderem führen. Mal sehen, wer mir über den Weg läuft.
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Nachher bauen wir wieder unsere Krippe auf. Wie jedes Jahr am Morgen des 24. Dezember. Ein schönes weihnachtliches Ritual! Heute Nachmittag wird diese weihnachtliche Installation in vielen Weihnachtsgottesdiensten sogar lebendig in Szene gesetzt. Als Krippenspiel.
Als Kind habe ich da oft mitgemacht. Als kleiner Junge war ich die ersten Male als Hirte dabei. Von denen konnte es ja nie genug geben. Ich durfte auch mal den Schurken geben, den bösen Wirt, der der hochschwangeren jungen Frau mit ihrem Begleiter kein Bett zur Verfügung stellen wollte. Sogar zum Bürgermeister von Bethlehem hab‘ ich es einmal gebracht. Und das neugeborene Kind willkommen geheißen, noch ehe die Hirten und die Weisen im Stall aufgetaucht sind.
Nur eine Rolle blieb mir stets verwehrt – die des Joseph. Wie stolz wäre ich gewesen, mit Maria am Arm durchs Kirchenschiff einzuziehen. Dabei kommt Joseph in der biblischen Weihnachtsgeschichte überhaupt nicht gut weg. Auf vielen Darstellungen in der Kunst fehlt er sogar ganz. Oder er ist irgendwie am Rand platziert. Wenn’s einen Krippenspiel-Oscar gäbe, wäre Joseph ein Kandidat für die wichtigste Nebenrolle. Der Vater des Kleinen, so erzählt es zumindest das Matthäus-Evangelium, durfte er nicht sein. Es werden keine Geschichten von ihm erzählt wie von Maria. Ihr erscheint der Engel Gottes persönlich und kündigt ihr die Geburt des Kindes an. Aus einer vornehmen Familie soll sie stammen. Vor allem wird ihr ein wunderbares Lied in den Mund gelegt. Das Magnificat. Von einem göttlichen Kind singt sie, das der Welt ein neues Gesicht geben und aller Gewalt ein Ende bereiten wird.
Von Joseph wissen wir nur, dass er ein Holzhandwerker war. Und dass er den großen König David zu seinen Vorfahren zählte. Mehr nicht. Vielleicht ist Joseph gerade deshalb mein Platzhalter in der Weihnachtsgeschichte. Er muss die Geschichte nicht am Laufen halten, aber ohne ihn bleibt sie unvollständig. Immerhin erscheint auch ihm ein Engel. Wenn auch nur im Traum. Als er sich heimlich aus dem Staub machen will. Doch der Engel sorgt dafür, dass er drin bleibt im weihnachtlichen Spiel. Und dass er dem Kind am Ende durch die Flucht nach Ägypten sogar das Leben rettet.
Ich habe mir vorgenommen: Heute werde ich den Joseph ganz nah an die Krippe heranrücken. Direkt neben Maria. Der Gott der Weihnacht hat eine Vorliebe für Nebenrollen. Das Kind in der Krippe übrigens auch.
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„Morgen, Kinder, wird’s was geben!“ Als Kind habe ich dieses Lied manchmal gesungen. Das Lied für den Tag vor Heiligabend. Wenn ich das Warten fast nicht mehr ausgehalten habe. „Einmal werden wir noch wach, Heißa, dann ist Weihnachtstag!“
Aus erwachsener Perspektive sehe ich das natürlich etwas anders! Aber als Kind, da war für mich das Warten auf die Weihnacht das Spannendste. Was für eine aufregende Zeit: Jeden Sonntag eine Kerze mehr auf dem Adventskranz. Jeden Tag ein weiteres offenes Türchen im Adventskalender. Dazu all die die wunderbaren Spielzeug-Prospekte in der Zeitung. Die waren für mich eine pure Glücks-Lektüre!
Und dann vor allem der Tag, nach dem ich nur „noch einmal“ würde wach werden müssen! Es war für mich der heimliche Höhepunkt meiner Weihnacht. Sicher, wenn wir Kinder an Heiligabend ins Wohnzimmer zum Christbaum mit den brennenden Kerzen durften, da war für mich schon ein Zauber spürbar. Doch eigentlich war der Heiligabend aus meiner kindlichen Sicht vor dem Beginn der häuslichen Feier ganz schön anstrengend. Da habe ich mich oft eher im Weg gefühlt. Da hatten die Erwachsenen ihr eigenes vorweihnachtliches Programm. Doch an den Tagen davor, vor allem am letzten Tag, da konnte ich es vor Warten kaum aushalten. Das war für mich die heimliche „kleine Weihnacht“ vor der großen. Da habe ich mir all das vorgestellt, was ich in meinem kindlichen Gemüt mit Weihnachten in Verbindung gebracht habe. Das Warten als gedankliche Vorwegnahme dessen, was noch aussteht. Ich vermute, wirklich anders ist das heute auch nicht. Es geht nicht einfach nur um die Erinnerung an eine rührselige Geschichte von der Geburt eines Kindes vor 2000 Jahren. Es geht um die Erfahrung, dass da noch etwas aussteht im Leben. Dass es zwischen meinem Leben in der Gegenwart und meinen Träumen von der Zukunft eine gewaltige Lücke gibt. Dass ich mit diesem Kind die Hoffnung verbinde, dass da noch mehr möglich ist. Dass Gott noch mehr möglich macht. Mehr „Friede auf Erden“. Mehr Gerechtigkeit. Mehr Nächstenliebe.
Ein klein wenig Heilig-Vorabend möchte ich heute feiern. Wie damals als Kind. Schon heute auf eine weihnachtliche Geschichte hören. Oder ein paar Wünsche und Sehnsüchte auf einen Zettel schreiben und den morgen unter den Christbaum legen. Morgen „wird‘s was geben“ – das stimmt. Aber wir stehen heute auch nicht mit leeren Händen da.
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Vor einigen Wochen stand ich ganz oben auf einer Schanze. Der Skiflugschanze in Oberstdorf. Sie ist höher als die meisten Kirchtürme. Man steht da oben ganz schön ungeschützt im Freien. Die Schanze ragt schräg wie ein Pfeil in den Himmel hinein, ohne irgendeinen Pfeiler als Unterstützung. Es ist mir erst nicht leicht gefallen zu entscheiden: Traue ich mich da wirklich hoch?
Ich hab mir ein Herz genommen. Und bin in den Aufzug gestiegen. Oben wurde ich reich belohnt. Der Blick in die Bergwelt ist gigantisch. Am meisten hat mich der Blick vom Schanzentisch nach unten fasziniert. Ich hab mir vorgestellt, wie die, die sich das Skifliegen zutrauen, da auf ihren beiden Skiern hinunterrasen. Ich bin sicher, die müssen sich jedes Mal einen inneren Ruck geben. Es muss dann aber auch ein tolles Gefühl sein. Ob im Wettkampf überhaupt Raum bleibt, dieses Gefühl bewusst wahrzunehmen? Ich weiß es nicht.
In Gedanken bin ich dann auch die Anlaufspur hinuntergerast und hab mich in die Luft erhoben. Ein tolles Gefühl! So möchte ich manchmal ins Leben springen. Einfach Anlauf nehmen und dann geht’s los. Und „alles, was uns groß und wichtig erscheint, wird plötzlich nichtig und klein!“ Reinhard Mey hat das vor einem halben Jahrhundert mit diesen eindrücklichen Worten besungen. Für mich ist dieser Schanzenflug über alles hinweg und hinein ins Leben ein schönes Bild. Für das, was ich mit meinem Glauben verbinde. Dem Leben zu trauen und intensiv zu leben. Und dabei irgendwie zurechtzukommen mit dem, was mich in meinem Alltag belastet. Nein, durch den vertrauensvollen Sprung ist nicht einfach alles Schwere weg. Wie der Skiflieger lande ich auch irgendwann wieder auf der Erde. Mitten auf dem Boden der Tatsachen. Aber die Erfahrung des Fliegenkönnens. Der Perspektivwechsel durch den Blick von oben lässt mich auch auf der Erde anders an manche Dinge herangehen.
Das Bild des Fliegens ist gar kein neues. „Mein Glaube lässt mich aufsteigen wie ein Adler“ (Jesaja 40,31) – das beschreibt ein Poet und Prophet der Bibel schon vor zweieinhalbtausend Jahren. Da kannte also schon lange vor mir einer das Gefühl, was ich oben auf der Schanze hatte. Ich bin froh, dass ich mutig genug gewesen bin, ganz nach oben zu fahren. Jetzt kann ich mir zumindest besser vorstellen wie das sein könnte: einfach loszufliegen. Und ein wenig kann diese Vorstellung auch meinem Glauben Flügel verleihen.
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So etwas hatte ich vorher noch nie erlebt! Der Lärm war ohrenbetäubend. Ein paar hundert Kühe und Kälber drängten auf eine große Wiese. Alle mit Glocken um den Hals. Das Leittier vorne mit einem Blumenkranz geschmückt.
Viehscheid heißt dieses alljährliche Spektakel. Mit Festzelt und Blasmusik. Man kann es im Allgäu im September miterleben. So wie ich vor wenigen Wochen. Die Tiere kommen von ihren Sommerwiesen auf den Bergen zurück ins Tal. Und werden dann voneinander getrennt. Geschieden. Und ihren jeweiligen Eigentümern zurückgegeben.
Ein biblisches Gleichnis ging mir durch den Kopf, während ich gebannt zugeschaut habe. Auch eine Scheid. Die große Viehscheid am Ende. Da beschreibt der Evangelist Matthäus ein großes Trennungsspektakel. Dort werden die Tiere nicht nach ihren Besitzern geschieden. Sondern nach der Bewertung ihres Lebens. Die Schafe rechts und die Böcke links. Die Böcke werden ausgeschieden. Zukunft haben nur die Schafe. Dabei handelt das Gleichnis nicht einmal von einer Viehscheid. Sondern von einer Menschenscheid. (Matthäus 25,31-46)
Kriterium, ob ich Zukunft habe, ist im Gleichnis mein Engagement für die Schwächsten. Für die, denen es am Allernötigsten fehlt, um menschenwürdig leben zu können. Entscheidend für die große Scheidung am Ende ist die Frage, zu wem ich gehöre. Zu denen, die Menschen verachtend über andere hinweggehen. Oder zu denen, die es nicht ertragen, wenn andere kleingemacht werden. Und vom Leben abgeschnitten.
Die Menschenscheid ist manchmal sehr leise. Oft sehe ich gar nicht, wie ein Mensch anderen Menschen Gutes tut. Manchmal ahnt er es nicht einmal selbst. Manchmal ist es dagegen offensichtlich, dass jemand anderen Menschen das Lebensnötige bewusst vorenthält. Dann ist mein Wort des Widerspruchs gefragt. Und mein Eintreten für die Opfer. „Was ihr den Schwachen an Gutem angedeihen lässt, tut ihr mir selber an. Und was ihr euren Mitmenschen vorenthaltet, enthaltet ihr mir vor.“ Der König, der dies im biblischen Gleichnis sagt, ist ein Bild für Gott.
Dennoch ist diese Menschenscheid eine Vorstellung, die mir Mühe macht. Ich hoffe sehr, dass möglichst viele zu denen gehören, die Leben ermöglichen. Und damit zu denen, die gerettet und nicht ausgeschieden werden. Und ich bin heilfroh, dass es nicht meine Aufgabe ist, die Menschen auseinanderdividieren. Mit der Viehscheid im Allgäu ist es da einfacher. Die konnte ich deshalb auch genießen. Und hoffentlich nicht zum letzten Mal.
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Wie gut, dass der 3. Oktober ein Feiertag ist! Alles etwas geruhsamer um mich herum. Eine kleine Unterbrechung des üblichen Tagaus, Tagein – mitten in der Woche. Aber halt – da war doch was! Der 3. Oktober ist ja nicht ohne Grund ein Feiertag. Aber irgendwie rutscht er mir auch weg. So viel anderes hat sich in den Vordergrund gedrängt seit jenem Tag, an dem aus zwei deutschen Staaten einer geworden ist. Vor 34. Jahren. Ein gewaltiges Projekt, das immer noch nicht abgeschlossen ist.
Ich kann die Krisen seitdem aus dem Stehgreif gar nicht alle aufzählen. Die Corona-Pandemie. Die beiden Kriege, der in der Ukraine und der im Nahen Osten. Der Streit um den Umgang mit den Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, beschäftigt viele sehr. Ganz zu schweigen von der Klimakrise, deren Folgen wir immer näher zu spüren bekommen.
Worum soll’s also heute gehen? Um ein Fest? Um Erinnerung? Wenn ich an die großen Gefühle denke, damals, an jenem 3. Oktober 1990, da denke ich: Schade! Euphorie und Glücksgefühle lassen sich leider nicht auf Dauer stellen. Aber wir können lernen, uns immer wieder an sie zu erinnern.
Feiertage haben den Sinn, der Erinnerung Raum zu geben. Eine Kultur der Erinnerung zu pflegen. In der jüdisch-christlichen Tradition gibt es das schon sehr lange. Erinnerung geschieht dadurch, dass die Ereignisse, an die erinnert werden soll, in der Vorstellung wiederholt werden. Bis dahin, dass sogar die alten Gefühle wieder entstehen können. An Passah wird an die Befreiung aus der Sklaverei erinnert. An Karfreitag an den Tod Jesu. An Ostern an seine Auferstehung. Der 3. Oktober ist kein kirchlicher Feiertag. Auch wenn sich die Kirchen damals sehr in den Protest gegen die alte Herrschaft eingebracht haben. Der 3. Oktober will die ganze Gesellschaft zu einer Erinnerungsgemeinschaft verbinden. Wir müssten dazu die Bauchgefühle von damals in unseren Kopf hinüberretten. Und staunen, was sich damals ereignet hat. Ein wahres Wunder. Eine politische Umwälzung ohne Blutvergießen.
Die aktuellen politischen Entwicklungen und die Wahlergebnisse zeigen deutlich: Der damals begonnene Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Er wirkt immer noch nach. Damals haben wir erlebt: Wunder sind möglich. Auch im Bereich der Politik. Und wenn ein paar der Glücksgefühle von damals in mir auftauchen, können Sie auch meine aktuellen Hoffnungen stärken. Gerade die auf Frieden.
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„Ich hätte gerne eine Seele!“ Der junge Mann, der da unlängst morgens beim Bäcker neben mir seine Bestellung aufgegeben hat, hat sich wohl nichts weiter dabei gedacht. Ganz spontan habe ich zu ihm gesagt: „Aber sie haben doch schon eine!“ Erst hat er mich ganz verständnislos angeschaut; dann hat er plötzlich herzhaft gelacht. „Ja, aber nicht so eine!“ Und mit einem Mal waren wir mitten im Gespräch. Über das, was unsere innere Seele ausmacht und was es mit der Seele auf sich hat, die er für sein Frühstück mitnehmen wollte. Und die ich genauso köstlich finde wie er. Der Teig, meist aus Dinkelmehl, länglich geformt, mit langer Gärzeit der Hefe, muss Blasen werfen. Am Ende wird der Teig mit Salz und Kümmel bestreut. Wenn die Seelen dann gebacken sind, gleicht keine der anderen. Jede hat ihre eigene Form, wenn sie da auf dem Backblech nebeneinander liegen.
Aber es ist nicht die eigene, unverwechselbare Form, die dem Gebäck seinen Namen gegeben hat. Womöglich stammt die Seele als Gebäck sogar noch aus vorchristlicher Zeit, als man armen Seelen etwas Nahrhaftes zum Überleben geben wollte. Und später haben christliche Backhandwerker diesen Brauch dann gerne weitergeführt und den Begriff für das gebackene Teilchen übernommen.
Das kurze Gespräch über die Seele gehört aber nicht nur an die Brötchentheke. Auf dem Heimweg habe ich weiter nachgedacht. Umgangssprachlich wird der Begriff Seele oft verwendet als Gegensatz zu dem, was von einem Menschen bleibt, wenn der Körper nach dem Tod zu Staub zerfällt. Ich meine aber, dass ich die Bibel auf meiner Seite habe, wenn ich Leib und Seele mir nur als eine Einheit vorstellen kann: „Lobe den Herrn, meine Seele!“, heißt es da zum Beispiel in einem Psalm. Hier ist ein Mensch doch als Ganzes im Blick. Nicht nur als Seele, wie sie umgangssprachlich oft verstanden wird.
„Ich hätte gerne eine Seele!“ Der Wunsch des jungen Mannes beim Bäcker, er könnte dann - jetzt wörtlich genommen - zum Ausdruck bringen: „Ich wäre gerne eine unverwechselbare, einzigartige Person, gerne mit Ecken und Kanten. Aber auch mit der mir eigenen Würde. Und der Aussicht, dass etwas von mir bleibt.“ Und dann sind wir mittendrin im Nachdenken über Gott und die Welt. Über meine Beziehungen zu den Menschen um mich herum. Und über meine Beziehung zu Gott, dem sich alles Leben verdankt. Deshalb will ich nicht nur meine Seele in Sicherheit bringen. Sondern andere Seelen für diese Sicht aufs Leben begeistern.
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„Gott ist Luft für dich? Dann bitte tief einatmen!“ sagt der Theologe Hans-Joachim Höhn am Ende eines Interviews. Dieser Satz hat mich richtig elektrisiert. Wenn ich sage, jemand ist Luft für mich, meine ich doch, dieser Mensch spielt für mich keine Rolle mehr. Dabei ist Luft ja für jeden Menschen lebensnotwendig. „Ich brauche dich wie die Luft zum Atmen!“ Das trifft dann schon eher, was Luft für mich ist.
Hans-Joachim Höhn hat beide Sichtweisen miteinander kombiniert. Wenn Gott für jemanden Luft ist, da hilft nur eines: Diese Luft kräftig einatmen. Sich diesem göttlichen Luftzug aussetzen. Und Gott in diesem Sinn dann wirklich Luft sein lassen. Ein genialer Gedankengang!
Eigentlich ist es kein Wunder, dass jemand Gott mit der Luft in Verbindung bringt! Gleich am Anfang der Bibel findet sich der Bericht von der Erschaffung des Menschen. Aus Erde formt Gott eine menschliche Gestalt. Wie ich sie schon häufig am Strand aus Sand geformt gesehen habe. Eine Figur aus Sand – ohne Leben. Im Schöpfungsbericht der Bibel heißt es dann weiter: „Da blies Gott den Atem des Lebens in den Menschen hinein. So wurde er lebendig.“ (1. Mose 2,7)
Zum ersten Mal ist Gott hier Luft für den Menschen. Durch diese göttliche Mund-zu-Mund-Beatmung ist der Erdenkloß dann ein lebendiges Wesen geworden. Wer atmet, lebt. Auch in einem übertragenen Sinn mache ich diese Erfahrung immer wieder: Ich spüre, dass es da etwas gibt, das Leben in mich bringt, wenn mir die Lust daran auch mal abhandenkommt. Ich spüre eine Lebendigkeit, die nicht aus mir selber kommt. In Form von Ideen, die mir zufliegen. In der Bereitschaft, etwas noch einmal zu versuchen, was bisher gescheitert ist. Oder mich auf etwas Neues einzulassen. Das fühlt sich dann an, wie von der Luft Gottes zu kosten.
Und wenn Gott einmal wirklich für mich Luft ist, wenn ich Gott irgendwie verloren habe, dann bleibt mir immer noch die Übung, tief durchzuatmen. Und irgendwann womöglich wieder etwas von der Lebendigkeit des Lebens zu spüren. Von der Lebenslust und Lebensluft Gottes. Auch wenn dabei oft eine ordentliche Portion Geduld nötig ist. Dass Gott Luft für mich ist – im einen wie im anderen Sinn - hält mich mit Gott in Beziehung. Ganz so wie Hans-Joachim Höhn es formuliert hat: Gott ist Luft für dich? Dann bitte tief einatmen!
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