SWR4 Sonntagsgedanken

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19MAI2019
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Singen macht frei

Anfang Mai habe ich ein Weihnachtslied gesungen: „Maria durch ein Dornwald ging“. Zusammen mit einer alten Frau. Und das war gar nicht komisch. Irgendwie war es ganz selbstverständlich. Ich möchte Ihnen erzählen, wie es dazu kam.

Frau Volkmann ist fast 90. Die Beine haben nicht mehr die Kraft, die sie früher hatten. Sie friert oft. Die Augen sind auch nicht mehr so gut. Vieles, sagt sie, ist nicht mehr so schön. Aber ihren Verstand hat sie noch. Darauf ist sie stolz. Ich habe sie zum Geburtstag besucht. Wir haben Rummikub gespielt. Während des Spiels hat sie gesagt: „Sagen Sie mal, Herr Pfarrer, können Sie singen?“ Ich habe geantwortet: „Ja, es geht. Kirchenlieder kann ich singen. Für Schlager taugt meine Stimme nicht.“

Einen Moment war Frau Volkmann in sich versunken. Dann hat sie erzählt: „Mein Lieblingslied ist „Maria durch ein Dornwald ging“. Ich habe immer wieder gedacht: Das Leben ist wie ein Wald. Das Leben ist voller Dornen. Und wenn das Jesuskind kommt, tragen die Dornen Rosen. Darauf baue ich.“ Nach einer kurzen Pause haben wir gemeinsam gesungen. Frau Volkmann war glücklich.

Solche Geschichten begegnen mir oft im Berufsalltag. Singen verbindet die Menschen. Egal, ob ich mit Erwachsenen oder Jugendlichen Musik mache. Ich merke dabei immer wieder: Singen ist einer der schönsten Wege, um Gottes Spuren zu finden. In den Melodien, in den Texten und in der Gemeinschaft mit anderen Sängerinnen und Sängern. Und das geht nicht nur mir so, glaube ich. Vielleicht kennen sie das auch…

Beim Singen passiert ganz viel. Der Atem wird trainiert. Wer singt, atmet durch. Wenn ich singe, muss ich den Mitsängern zuhören. Oder ich kann mich an den guten Sängern orientieren. Sänger helfen sich gegenseitig. Der Rhythmus der Musik bringt den Körper in Bewegung. Gerade bei Kindern sind die Lieder oft von kleinen Choreographien begleitet, damit Musik und Text ihnen wortwörtlich in Fleisch und Blut übergehen. Zu singen bringt Körper und Geist in Bewegung. Und in Kirchenchören treffe ich Menschen, die zwar nicht an Gott glauben. Aber beim Singen spüren: Durch diese Welt zieht sich eine überirdische Melodie. Ich glaube: Wer singt, findet die Harmonie des Lebens.

Miteinander zu singen – auch wenn nicht jeder Ton passt – ist ein großes Geschenk. Wer gemeinsam singt, teilt miteinander die Stimme. Wer gemeinsam singt, teilt Zeit miteinander. Und ich finde: Wer singt, lässt sich nicht unterkriegen. Das erleben alle, die singen. Musik tut gut. Man fühlt sich freier und unbeschwert.

Singen setzt Energie frei

In der Bibel wird davon erzählt, dass Gesang sogar Fesseln sprengen kann. Es heißt: Paulus wurde mit seinem Mitarbeiter Silas in den Kerker geworfen. Um ganz sicher zu gehen, dass Paulus und Silas nicht fliehen, wurden den beiden Fußfesseln angelegt. Ihre Lage war aussichtslos und bedrohlich. Mit Fluchthilfe konnten sie nicht rechnen.

Trotzdem, erzählt die Bibel: Um Mitternacht beginnen beide, zu singen. Genauer heißt es: „sie lobten Gott“. Vermutlich haben sie religiöse Lieder gesungen. So, wie die Sklaven auf den Baumwollfeldern in Amerika. Oder wie die Anhänger der Reformation zur Zeit Luthers. Sie haben Lieder vom Vertrauen auf Gott gesungen. Und das hat ihnen Mut gemacht. Das hat ihnen Kraft gegeben.

Bei Paulus und Silas im Gefängnis ist ein Wunder geschehen. Die Erde bebt, die Ketten reißen, die Tür zum Kerker geht auf. Wie genau das möglich war? Keine Ahnung.

In der Bibel ist der Clou der Geschichte, dass der Kerkerwächter vom Gottvertrauen der beiden so beeindruckt ist, dass er sich mit seiner Familie taufen lässt.  Die Lieder vom Gottvertrauen haben also zwei Dinge bewirkt: Paulus und -Silas haben ihre Freiheit zurück. Und sie haben auch andere beeindruckt und ihnen Gottvertrauen vermittelt.

Ich weiß: Wenn ich heute mit Menschen singe, dann werden sie nicht wie durch ein Wunder gesund. Ich weiß: Körperliche oder seelische Fesseln zerspringen nicht einfach. Trotzdem mag ich diese Geschichte. Sie beschreibt, wie viel Energie im gemeinsamen Singen liegt. Zum einen will ein Kerkerwächter in Zukunft mitsingen. Zum anderen vertreibt Gesang die Hoffnungslosigkeit.

Letzte Woche habe ich mich mit Frau Schwertfeger unterhalten. Sie ist 55 Jahre alt. Sie arbeitet gerne und viel. Manchmal hängt ihr die Arbeit aber zum Halse raus. Dann wird ihr alles zu viel und am liebsten würde sie die ganze Arbeit einfach hinschmeißen. Sie hat mir erzählt: Wenn ich keine Energie mehr habe, dann singe ich ‚Der Himmel geht über allen auf. Das habe ich im Kindergottesdienst gelernt. Das ist jetzt über 40 Jahre her, aber damit lade ich immer noch meine Batterien auf. Dann wird der Himmel wieder weit über mir. Und dann geht es weiter.

Gerade so, als würde die Stimme die Seele aus der Hoffnungslosigkeit rausziehen. In diesem Sinne hat Martin Luther mal gesagt, dass die Musik ein Geschenk Gottes ist. Ich singe gern, weil ich das auch schon genauso erlebt habe.

Ich hoffe, ich konnte Sie mit meinen Geschichten ermutigen, heute das Singen mal auszuprobieren. Vielleicht haben Sie ja ein Lieblingslied. Vielleicht ist es sogar ‚Maria durch ein Dornwald ging‘, wie bei der Frau, die ich besucht habe. Ich weiß jetzt: Das kann man auch im Mai noch singen.

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete und melodiöse Woche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28679
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