SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

„Im Schnee saß, im Schnee, da saß ein armer Mann, hatt‘ Kleider nicht, hatt‘ Lumpen an. O helft mir doch in meiner Not, sonst ist der bitt‘re Frost mein Tod.“

Das haben die Kinder gestern wieder gesungen. Dazu sind sie mit ihren Laternen durch die Straßen gezogen. Das Lied erzählt die Geschichte vom heiligen Martin. Es geht auf eine alte Legende zurück: Martin von Tours hat als römischer Soldat seinen warmen Mantelumhang mit seinem Schwert durchgeteilt. Die eine Hälfte hat er einem Bettler geschenkt, der am Weg gesessen hat.

Ich habe dieses Lied als Kind auch jedes Jahr gesungen. Ich kann es heute noch auswendig! Und es ist ja auch ein großartiges Lied. Es lehrt das Hingucken. Wie geht es dem anderen? Was sind seine Bedürfnisse, was ist seine Not? Und habe ich etwas, das ich mit ihm teilen kann, ohne dass ich Not leide? Kann ich die Not des anderen lindern, seine Bedürfnisse stillen?

Hingucken und Teilen. Am Martinstag müssen dieses Lied und dieses Thema einfach sein. Kindergärten, Schulen, Kirchengemeinden – alle machen mit! Es gibt noch mehr Lieder, und es gibt unzählige Geschichten und Bilderbücher dazu. Uns Erwachsenen ist offenbar sehr wichtig, dass die Kinder das Teilen lernen. Dass sie die Not anderer sehen und verstehen. Und etwas abgeben von ihrem Überfluss.

Heute ist das schöne Fest wieder vorbei. Und ich frage mich: Ist das denn nur ein Fest für Kinder? Und nur ein Thema für Kinder? Brauchen wir Erwachsenen den heiligen Martin nicht auch? Müssten wir nicht auch Lieder singen und Geschichten hören, die uns zum Teilen einladen? Die von dem sprechen, was wir im Überfluss haben und mit anderen teilen könnten?

„Im Schnee, da saß ein armer Mann“, heißt es in dem Lied. Die armen Männer heute sitzen in den Fußgängerzonen. Oder sie stehen vor dem Einkaufszentrum oder gehen durch die S-Bahn und bieten die Obdachlosenzeitung an. Die allermeisten Menschen hasten an diesen armen Männern vorbei. Manchmal ist es auch eine arme Frau. Ich habe auch nicht immer Kleingeld parat. Und ich habe keine Zeit. Sage ich mir jedenfalls. Und denke vielleicht auch: Na ja, der müsste ja nicht da sitzen. Der könnte ja auch was schaffen.

Wenn ich mir aber die Zeit nehme und sie mit einem solchen armen Mann teile, dann denke ich so etwas nicht mehr. Dann erfahre ich, warum der jetzt hier sitzt. Da ist viel schiefgelaufen. Und vielleicht hat er auch nicht so viel Glück gehabt wie ich. Wer da erst einmal sitzt, der hat oft schon aufgegeben. Die vielen Zeitungen, die die Wohnungslosen selbst herstellen, sind ein wichtiger Schritt, da wegzukommen. Etwas zu ändern. Ich kaufe diese Zeitungen häufiger und lese sie auch. Was kann ich noch tun? Wie kann ich teilen?

Das Wort „teilen“ hat noch eine andere Bedeutung. Da heißt es so viel wie „trennen“. Ich bin im geteilten Deutschland aufgewachsen. Dann kam die Wiedervereinigung. Doch ich erlebe Deutschland immer noch als ein geteiltes Land. Immer noch gibt es eine unsichtbare Grenze. Ich wünschte mir, wir würden uns das Land wirklich teilen, das so lange geteilt war. Den Wohlstand teilen – aber auch die Erfahrungen, die Geschichten, die Art, die Welt zu sehen. Ich wünschte mir, wir würden mehr aufeinander hören und versuchen, einander zu verstehen.

Und es gibt nicht nur die alte Trennung zwischen Ost und West. Das ganze Land ist geteilt in Arm und Reich. In Menschen, die mehr oder weniger alles mitmachen können – und in Menschen, die dafür kein Geld haben. Wie viele Kinder, die vom heiligen Martin singen, leben von Hartz IV! Sie singen vom Teilen, vom Helfen in der Not. Aber wer teilt mit ihnen? Eine Grundsicherung reicht nur sehr knapp zum Leben. Für Familien mit Kindern reicht es eigentlich nur noch zum Allernötigsten.

Ein geteiltes Land, das ist Deutschland immer noch. Die ganze Welt ist so geteilt. In Arm und Reich, in Sicher und Unsicher. Eine geteilte Welt. Aber keine Welt, die wir uns alle teilen. Das Teilen, das muss unser reiches Land nun mit den Flüchtlingen üben. Viele spielen die Wohnungslosen und die Hartz IV-Empfänger gegen die Flüchtlinge aus. Immer wieder höre ich: Kümmert euch doch erst einmal um die Armen bei uns! Ja, das müssen wir wirklich alle tun. Aber tun wir es? Oder dienen die Armen in Deutschland als Entschuldigung? Damit wir die Grenzen und die Herzen dicht machen können?

Ich finde, das Lied vom Heiligen Martin lehrt hinzugucken. Die Not zu sehen. Und dann zu fragen: Was kann ich tun? Nicht die anderen. Ich. Mit dem, was ich habe. Was ich mehr habe, als ich vielleicht brauche.
Ich weiß, es ist nicht leicht, das Gute mit anderen zu teilen. Hingucken, nicht weggucken: Ich glaube, das ist der erste und wichtigste Schritt. Und dann teilen, wie der Heilige Martin.  Der hat sein Herz geöffnet.

Martin hat erkannt: Der andere ist wie ich. Er ist auch Gottes Geschöpf. Gott liebt ihn genauso wie mich. Gott hat ihm das Leben geschenkt. Wie kann ich helfen, dass der andere sich an diesem Geschenk genauso freuen kann wie ich?
So fragt ein Heiliger. Aber wenn Heilige Menschen sind, die anderen helfen, sich zu freuen – dann können wir auch solche Heiligen werden, Sie und ich!

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25348
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