SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Ich stehe an der Ampel. Dichter Feierabendverkehr auf einer vierspurigen Straße durch die Stadt. Neben mir die Leitplanke. An der Leitplanke eine Blume. Keine besonders großartige oder spektakuläre Blume. Und dennoch wunderschön.
Die Ampel ist noch immer rot. Ich habe Zeit für die Blume. Sie hat ein paar grüne Blätter und eine blaue Blüte. In den Abgasschwaden schaukelt sie leicht hin und her. Sie hat sich keinen besonders idyllischen Platz zum Wachsen und Blühen ausgesucht.
Und dennoch wächst sie da. Trotz aller Widrigkeiten blüht sie da vor sich hin. Keiner hegt sie, keiner pflegt sie, keiner kümmert sich um sie. Und dennoch ist sie da. Gibt einfach nicht auf. Was für eine Kraft.
Auf dieser Straße, an dieser Ampel, neben dieser Leitplanke wünsche ich mir einen Funken dieser Kraft. Nicht für mich, sondern für Ina. Ina ist vier. Sie war dabei, als mit ihrem Vater der Zorn durchging, so dass er ihre Mutter mit dem Gürtel verprügelt hat. Ina war mit ihrer Mutter im Frauenhaus. Mittlerweile ist Ina bei einer Pflegefamilie. Weil ihre Mutter es alleine nicht schafft, ihr Kind zu versorgen.
Ina ist ein hübsches kleines Mädchen mit einem offenen Gesicht. Wenn sie lacht, geht die Sonne auf. Aber sie lacht immer seltener. Manchmal sitzt sie in der Ecke und brütet vor sich hin. Oder sie schlägt ohne ersichtlichen Grund um sich. Ohne ersichtlichen Grund?
Ina ist eine Leitplanken-Blume. Die stünde vielleicht auch lieber in einem schmucken Blumenbeet, wo sie nach Herzenslust wachsen und gedeihen könnte. Aber sie hat sich diesen Platz an der Leitplanke nicht ausgesucht. Die Blume schafft es, das Beste daraus zu machen. Wird Ina das auch schaffen?
Die Ampel wird grün, ich fahre weiter. Die Blume lasse ich zurück. Aber den Gedanken an Ina, den nehme ich mit. Und an Moritz und Kevin und Natascha. Weil deren Wachsen und Gedeihen schon damit beginnt, dass ihr Schicksal anderen nicht gleichgültig ist.

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