SWR2 Wort zum Tag

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Ein Flaneur ist ein Augenmensch. Gelassen und ohne erkennbares Ziel schlendert er durch die geschäftigen Einkaufsmeilen. Manchmal sitzt er bei einem Capuccino an einer Ecke des Marktplatzes und liest Zeitung. Dabei tut er oft nur so, als lese er. In Wirklichkeit geht sein Blick über den Zei­tungsrand hinaus.
Mit interessiertem Blick beobachtet er die Menschen, die vorbei eilen. Den eiligen Schritt des Mannes im dunklen Anzug mit dem Handy am Ohr. Die Mutter mit den vollen Einkaufstaschen, die den Kinderwagen schiebt. Das Pärchen, das selbstvergessen über die Straße turtelt
.Gott ist kein Flaneur. Aber die Augen Gottes, sein Blick, seine Aufmerksamkeit spielen in der Bibel eine große Rolle. Wer von Gott angesehen ist, weiß, dass sein Leben nicht gleichgültig ist. Im Ansehen Gottes wird das, was ich tue, wahrgenommen und wertgeschätzt.
Dieses Wahrgenommenwerden ist heute eine kostbare, weil seltene Res­source. In der Regel werden Menschen abtaxiert: Was kannst Du? Wozu bist du nützlich? Der Blick Gottes vermittelt etwas anderes. Ich schaue auf Dich. Ich nehme Dich wahr. Auf Dir ruht mein Blick.
Manche Menschen haben das als unangenehm empfunden. Den Blick eines kontrollierenden Über-Vaters wollten sie nicht. Ganz zu Recht! Aber da­von ist in der Bibel auch nicht die Rede. Hier geht es immer wieder darum, dass Menschen darum bitten und Wert darauf legen, nicht aus der Auf­merksamkeit Gottes heraus zu fallen.
„Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war", heißt es im Psalm 139. Und ein anderer Psalm stellt die nahe liegende Frage: „Der das Auge gemacht hat, sollte der dich nicht sehen?" Es ist ein Trost gegen die Anonymität und Gleichgültigkeit, die einem Menschen im Leben widerfahren kann.
Das ist für mich das Befreiende: Gottes Blick reißt heraus aus dem Leiden, nicht wahrgenommen und nicht beachtet zu werden. So wie es das geknechtete Volk Israel in Ägypten erlebt hat, als es in den Fokus der Aufmerksamkeit Gottes geriet: Ich habe das Elend meines Volkes gesehen, sagt Gott da. Und diese Wahrnehmung Gottes wird für Israel zum Ausgang aus der Sklaverei, zum Beginn einer großen Befreiungsgeschichte.
Gott sieht Menschen an. Sein interessierter Blick schenkt Menschen Achtung und Wertschätzung. Und öffnet ihre Augen für die Anderen an ihrer Seite. Ein erweckter Blick, der sagt: Ich sehe dich an. Ich nehme dich wahr. Du bist mir wichtig.

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